Man hatte Illidan seinen Ruhm gestohlen… und ihn zu einem Botenjungen degradiert, der nach dem so hoch gelobten Malfurion suchen sollte.
Die dunklen Gedanken, die in seinem Verstand auf ihre Gelegenheit gewartet hatten, kehrten mit aller Macht zurück. Illidan versuchte zwar, geistigen Kontakt zu seinem Bruder herzustellen, ein Teil von ihm hoffte jedoch, dass Malfurion ein Opfer der Brennenden Legion geworden und deshalb nicht zurückgekehrt war. Der Zauberer wünschte ihm natürlich einen möglichst heldenhaften Tod, aber abgesehen davon störte ihn die Vorstellung, den Rest seines Lebens ohne seinen Bruder verbringen zu müssen, nicht sonderlich. Natürlich würde Tyrande um ihn trauern, aber er würde sie trösten…
Der Gedanke an Tyrande vertrieb die Düsternis. Illidan bekam Schuldgefühle, als ihm klar wurde, wie schrecklich die Priesterin leiden würde. Tyrande sollte dies nicht durchstehen müssen. Sie hatte Malfurion gewählt. Damit musste er sich abfinden.
Illidan konzentrierte sich auf seinen Zwillingsbruder. Erst wenn er seine Aufgaben erledigt hatte, konnte er über die Zukunft nachdenken. Bis vor kurzem hatte er geglaubt, Ravencrest und Tyrande würden eine große Rolle darin spielen – doch in beiden Personen hatte er sich geirrt.
Jetzt musste Illidan herausfinden, wohin er gehörte…
Brox schwang seine Axt und köpfte die Teufelsbestie, die ihm entgegengestürmt war. Neben ihm kämpften Jarod und die wenigen überlebenden Soldaten seiner Truppe gegen den nicht enden wollenden Strom der Dämonen. Die meisten hatten längst ihre Reittiere an den Feind verloren und fochten jetzt gemeinsam mit den Fußsoldaten.
Ein Reiter mit einem halb zerrissenen Banner tauchte in der Nähe des Orcs auf. Brox grunzte überrascht. Diese Einheit hielt sich normalerweise in Lord Ravencrests Nähe auf. Waren die Streitkräfte bereits so weit zurückgedrängt worden, dass die Linien völlig zusammengebrochen waren?
Er drehte den Kopf nach links. Sein Verdacht bestätigte sich. Der schwarze Rabenbanner der Festung flatterte unweit entfernt. Brox hatte nicht gemerkt, dass er sich so stark rückwärts bewegt hatte, doch das war der Beweis.
Ravencrest tauchte neben dem Banner auf. Er schonte sich nicht, sondern warf sich in den Kampf. Zuerst schlitzte er eine Teufelsbestie mit seinem Schwert auf, dann trat er ihr gegen den Kopf. Inmitten seiner persönlichen Leibwache wirkte der Herr über Black Rook selbst auf einen erfahrenen Kämpfer beeindruckend. Anfangs hatte Brox keinen Respekt vor den Nachtelfen gehabt, doch Ravencrest hatte sich als ein Krieger erwiesen, der es verdient gehabt hätte, ein Orc genannt zu werden.
Nachtelfen umschwärmten den Adligen, als könnte seine Stärke auf sie abfärben. Ravencrest hatte eine Fähigkeit, die kein Zauberer beherrschte – seine Soldaten wurden nur durch seine Anwesenheit stärker und entschlossener. Die Gesichter, in die Brox jetzt blickte, zeigten Härte und Stolz. Sie blickten dem Tod entgegen, aber sie würden alles geben, um den Sieg der Dämonen zu verhindern.
So viele Nachtelfen hatten sich rund um ihren Kommandanten versammelt, dass es beinahe schon gefährlich für ihn wurde. Mehr als einmal kam ihm eine Klinge seiner eigenen Soldaten bedrohlich nahe, aber er ignorierte sie, konzentrierte sich nur auf die Waffen der Feinde.
Ein berittener Soldat tauchte plötzlich dicht neben Ravencrest auf, dichter, als es nötig gewesen wäre. Der Nachtelf wirkte voller Grimm, aber nicht auf die gleiche Weise wie die anderen Soldaten. Sein Blick war auf Ravencrest gerichtet, nicht auf die Dämonen.
Der Orc begann auf den Kommandanten zuzulaufen.
„Brox?“, rief Jarod. „Wohin willst du?“
„Eile“, knurrte der grünhäutige Krieger. „Muss warnen.“
Der Captain blickte in die gleiche Richtung wie der Orc, sah aber offensichtlich nicht das, was ihm aufgefallen war. Trotzdem folgte er ihm.
„Weg!“, brüllte Brox die Nachtelfen an, die ihm im Weg standen. Er sah, wie der Reiter bereits in Position ging. In einer Hand hielt der Soldat sein Schwert und die Zügel seines Reittiers. Die andere schwebte über seinem Gürtel, in dem ein Dolch steckte. Im Kampf gegen die Legion war eine solche Waffe nutzlos. Er zog den Dolch und beugte sich zum Kommandanten vor.
„Achtung!“, schrie Brox, aber Ravencrest konnte ihn nicht hören. Der Lärm der Schlacht übertönte alle anderen Geräusche.
Das Reittier des Attentäters scheute und zwang ihn einige Schritte zur Seite. Brox stieß Soldaten aus seinem Weg und winkte mit seiner riesigen Axt in der Hoffnung, Ravencrests Aufmerksamkeit zu erregen.
Die des Adligen erregte er nicht… aber die des verräterischen Soldaten.
Dessen Augen wurden schmal. Verzweiflung verzerrte sein Gesicht, dann warf er sich dem Kommandanten entgegen.
„Vorsicht!“, schrie Brox.
Ravencrest begann sich zu dem Orc zu drehen. Er runzelte die Stirn, als wolle er nicht – von niemandem! – in seinem Tun unterbrochen werden.
Der Attentäter stieß ihm die Klinge in den Nacken.
Der Adlige versteifte sich im Sattel. Er ließ sein Schwert fallen und tastete nach der kleinen Klinge, aber der Soldat hatte sie bereits aus der Wunde gezogen. Blut lief über Ravencrests dünnen Umhang.
Niemand in seiner Nähe bemerkte, was geschehen war. Der Attentäter warf den Dolch weg und wollte davonreiten, doch die vielen Soldaten behinderten ihn.
Unter lautem Gebrüll bahnte sich Brox seinen Weg. Nachtelfen wichen ihm erschrocken aus, befürchteten wohl, er habe den Verstand verloren. Der Orc erklärte ihnen nicht, worum es ging. Ihn interessierte nur noch der Verräter.
Zitternd sackte Lord Ravencrest zusammen. Seine Soldaten drehten sich zu ihm um. Einige stützten ihn, um zu verhindern, dass er von seinem Reittier kippte.
Brox erreichte Ravencrest. „Da! Da!“
Einige Nachtelfen sahen ihn verwirrt an. Zwei schlossen sich dem Orc an.
Dem Attentäter fiel es schwer, sich mit seinem Tier einen Weg durch die Menge zu bahnen. Er schaute über seine Schulter und entdeckte die Verfolger. Fatalistisch nickte er, dann rief er seinem Nachtsäbler einen Befehl zu. Die Katze reagierte sofort und schlug einen Soldaten zur Seite, der den Weg verstellt hatte. Gleichzeitig biss sie einen zweiten. Andere Soldaten sprangen hastig zur Seite. Sie mussten denken, das Tier sei durchgegangen.
Brox schätzte die Entfernung ab und sprang. Er landete unmittelbar hinter dem Nachtsäbler, holte mit seiner Axt aus und schlug nach der Flanke der Katze.
Der Schlag streifte sie nur, dennoch fuhr sie, fauchend vor Wut, herum. Sie ignorierte die hastigen Befehle ihres Reiters und stürzte sich auf ihren Angreifer.
Brox parierte die Schläge der mächtigen Tatzen mühsam. Der Nachtsäbler knurrte und sprang.
Der Orc hob die Axt und grub die Klinge tief ins Fleisch der Katze, direkt unter ihrem Kiefer. Blut spritzte Brox entgegen. Er wich der Bestie aus, die, von ihrem eigenen Schwung getrieben, vorwärts stolperte.
Ein heißer Schmerz strich plötzlich über den linken Arm des Orcs. Er blickte darauf und sah eine klaffende blutende Wunde.
Der Attentäter riss das Schwert zurück und holte ein zweites Mal aus, aber eine andere Schwertklinge kreuzte die seine.
Jarod grunzte. Der Schwung des gegnerischen Schwerts zwang ihn beinahe in die Knie. Der verräterische Soldat trat nach dem Captain, aber Jarod wich ihm aus.
Der Captain achtete zu wenig auf den sterbenden Nachtsäbler. Die Katze rang mit dem Tod und schlug nach allem, was in ihre Nähe kam. Sie erwischte Jarod mit einer Tatze und schleuderte ihn zu Boden.
Brox zog seine Axt aus der Wunde. Mit einem gurgelnden Geräusch brach die Bestie endgültig zusammen und blieb reglos liegen.
Der Nachtelf sprang von seinem toten Reittier und stürmte Brox mit gezogenem Schwert entgegen. Er prallte gegen den erfahrenen Krieger und trieb ihn zurück. Der Orc kämpfte um sein Gleichgewicht.
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