Der Hirte zog seinen zinnernen Trinkhalm aus dem Mund. »Das war ein Ochs«, sagte er.
Ich nickte. »Wir haben ihn gebraucht für diese arme Frau, die krank ist, und ihn uns so ausgeliehen. Gehört er dir? Wir haben uns gedacht, dagegen hätte niemand etwas einzuwenden, denn schließlich haben wir keinen Schaden angerichtet.«
»Schon gut.« Der Hirte winkte großzügig ab. »Ich habe nur gefragt, weil ich zunächst gedacht habe, es sei ein Roß. Meine Augen sind nicht mehr die besten.« Er schilderte uns, wie gut sie einst gewesen waren – nämlich außerordentlich gut. »Aber stimmt schon, ’s ist ein Ochs gewesen.«
Jetzt nickten Dorcas und ich gemeinsam.
»Ihr seht, was es heißt, alt zu werden. Ich hätte die Klinge dieses Messers geleckt«, er klopfte auf das metallene Heft, das von seinem breiten Bauchgurt hervorlugte, »und es zur Sonne erhoben und geschworen, daß ich zwischen den Beinen des Ochsen etwas hängen sah. Aber wäre ich kein solcher Narr, wüßte ich, daß niemand die Bullen der Pampas reiten könnte. Der rote Panther kann’s, aber der hält sich mit seinen Klauen fest, und dennoch kostet’s ihn manchmal das Leben. Es war bestimmt ein Euter, daß der Ochs von seiner Mutter erbte. Ich kannte sie, und sie hatte eins.«
Ich sagte, ich sei ein Städter, der sich mit Vieh nicht auskenne.
»Aha«, kam es von ihm, während er seinen Mate trank. »Aber ich weiß noch viel weniger als du. Alle hier sind bis auf mich ein ungebildetes Eklektikervolk. Kennst du diese Leute, die man Eklektiker nennt? Sie wissen nichts – wie soll ein Mann mit solchen Nachbarn etwas lernen?«
Dorcas sagte: »Bitte, dürfen wir diese Frau ins Haus bringen, daß sie sich hinlegen kann. Sie wird, fürcht’ ich, sterben.«
»Ich sagte doch, ich weiß nichts. Du solltest diesen Mann hier fragen – er kann einen Ochsen – fast hätt’ ich Bullen gesagt – wie einen Hund führen.«
»Aber er kann ihr nicht helfen! Nur du kannst’s.«
Der Hirte beäugte mich, als wollte er sich vergewissern, daß ich, und nicht Dorcas, den Bullen bezähmt hatte. »Ich bedauere das mit eurer Freundin«, erklärte er, »die einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein muß, wie man sieht. Aber obwohl ich hier sitze und mit euch scherze, hab’ ich selber einen Freund, der gerade drinnen liegt. Ihr fürchtet, eure Freundin könnte sterben. Ich weiß, daß der meine stirbt, und möchte, daß er ungestört bleibt.«
»Das verstehen wir, aber wir werden ihn nicht stören. Vielleicht können wir ihm sogar helfen.«
Der Hirte blickte von Dorcas zu mir und wieder zurück. »Ihr seid seltsame Leute – was soll ich sagen? Nicht mehr als einer dieser dummen Eklektiker. Dann kommt halt rein. Aber seid leise und vergeßt nicht, daß ihr meine Gäste seid.«
Er stand auf und öffnete die Tür, die so niedrig war, daß ich mich beim Eintreten bücken mußte. Das Haus bestand aus einem einzigen Zimmer, das dunkel war und nach Rauch roch. Auf einer Pritsche vor dem Feuer lag ein viel jüngerer und, wie ich glaubte, viel größerer Mann als unser Gastgeber. Er hatte die gleiche braune Haut, die jedoch blutleer war; seine Wangen und Stirn sahen aus wie lehmbeschmiert. Es war kein zweites Bettzeug vorhanden, aber wir breiteten Dorcas’ zerlumpte Decke auf dem Fußboden aus und legten Jolenta darauf. Sie öffnete kurz die Augen. Sie waren ohne Leben, und das einst klare Grün war verbleicht wie ein Tuch in der Sonne.
Der Hausherr schüttelte den Kopf und flüsterte: »Mit ihr wird es nicht länger als mit diesem dummen, eklektischen Manahen dauern. Vielleicht nicht einmal so lang.«
»Sie braucht Wasser«, erklärte ihm Dorcas.
»Hinten, im Trauffaß. Ich hol’s.«
Als ich hörte, daß sich die Tür hinter ihm schloß, zog ich die Klaue hervor. Diesmal erstrahlte sie in solch grellem, zyanblauem Licht, daß ich fürchtete, es könnte durch die Wände dringen. Der junge Mann auf der Pritsche atmete tief durch und stieß die Luft mit einem Seufzer wieder aus. Sogleich steckte ich die Klaue wieder fort.
»Ihr hat sie nicht geholfen«, stellte Dorcas fest.
»Vielleicht wirkt das Wasser Wunder. Sie hat viel Blut verloren.«
Dorcas beugte sich hinab und glättete Jolentas Frisur. Offenbar fielen ihr die Haare aus, wie es alte Frauen und schwer Fieberkranke oft erleben müssen; denn ein ganzes Büschel klebte an Dorcas feuchter Handfläche, was mir trotz des düsteren Lichts nicht entging. »Ich glaube, sie ist schon immer krank gewesen«, flüsterte Dorcas, »solange ich sie kenne. Dr. Talos hat ihr etwas dagegen gegeben, aber nun hat er sie fortgejagt – sie ist immer sehr fordernd gewesen, und nun hat er sich gerächt.«
»Ich kann nicht glauben, daß er eine so schwere Rache beabsichtigt hat.«
»Ich eigentlich auch nicht. Severian, hör zu; er und Baldanders werden gewiß Rast machen, um ihre Darbietungen zum besten zu geben und zu spionieren. Vielleicht könnten wir sie finden.«
»Zu spionieren?« Mir war wohl anzusehen, wie verblüfft ich war.
»Mir kam es wenigstens so vor, daß sie sowohl zum Geldverdienen als auch zum Auskundschaften die Welt bereisten, und einmal gab Dr. Talos es mir gegenüber indirekt zu, auch wenn ich nie herausfand, was sie aufspüren wollten.«
Der Hirte kam mit einer Gurde Wasser wieder. Ich hob Jolentas Oberkörper in Sitzhaltung, während Dorcas das Gefäß an ihre Lippen führte. Das Wasser lief ihr über das zerlumpte Kleid, aber ein Teil auch in die Kehle; als die Gurde leer und der Hirte sie wieder gefüllt hatte, konnte sie schon schlucken. Ich fragte ihn, ob er wisse, wo der See Diaturna liege.
»Ich bin ungebildet und dumm«, sagte er. »Ich bin noch nie so weit geritten. Ich habe gehört, in dieser Richtung«, wobei er sie anzeigte, »nördlich und westlich. Wollt ihr dorthin?«
Ich nickte.
»Dann müßt ihr durch einen schlimmen Ort. Durch viele schlimme Orte vielleicht, gewiß aber durch die steinerne Stadt.«
»Es gibt hier in der Nähe also eine Stadt?«
»Eine Stadt ja, aber ohne Menschen. Die dummen Eklektiker, die am Rande der Stadt leben, glauben, sie bewege sich und stelle sich einem, ganz gleich welchen Pfad man auch wähle, immer wieder in den Weg.« Nach einem kurzen Lachen seufzte der Hirte. »Das stimmt nicht. Aber die steinerne Stadt ist so gekrümmt, wie ein Reittier geht, so daß man sie vor sich sieht, während man meint, sie zu umrunden. Versteht ihr? Nicht ganz, glaub’ ich.«
Mir fiel der Botanische Garten ein, und ich nickte. »Ich verstehe. Sprich weiter.«
»Wenn ihr nach Norden und Westen wollt, müßt ihr die steinerne Stadt sowieso passieren. Sie muß gar nicht so gebogen sein, wie ihr geht. Manche finden dort nichts als verfallene Mauern. Andere, wie ich höre, finden Schätze. Wieder andere bringen frische Vorräte mit heim, und wieder andere kehren nie zurück. Keine der Damen ist Jungfrau, nehm’ ich an.«
Dorcas sperrte den Mund auf. Ich nickte.
»Das ist gut. Denn gerade die kommen, meist nicht wieder. Versucht, bei Tage durchzugehen, so daß ihr am Morgen die Sonne über der rechten Schulter und später im linken Auge habt. Wenn die Nacht anbricht, bleibt nicht stehen oder biegt seitlich ab. Seht zu, daß die Sterne des Ihuaivulu vor euch stehen, sobald sie sichtbar werden.«
Ich nickte und wollte mich nach weiteren Einzelheiten erkundigen, als der Kranke die Augen aufschlug und sich aufsetzte. Seine Decke rutschte hinunter, und ich sah einen blutigen Verband auf seiner Brust. Er schreckte zurück, starrte mich an und rief etwas. Im nächsten Augenblick spürte ich die kalte Messerklinge des Hirten an meinem Hals. »Er tut dir nichts«, erklärte er dem Kranken. Er redete im gleichen Dialekt, aber weil er langsamer sprach, konnte ich ihn verstehen. »Ich glaub’ nicht, daß er weiß, wer du bist.«
»Ich sage dir, Vater, das ist der neue Liktor von Thrax. Sie haben nach einem geschickt, und die Schließer sagen, er sei unterwegs. Töte ihn! Er wird alle umbringen, die nicht schon tot sind.«
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