»Pah!« schnaubte der Nachtmeister so heftig, daß der Minotaurensoldat einen Schritt zurückwich. »Die Kyrie ermüden nicht so leicht. Es muß einen anderen Grund geben, den wir bald erfahren werden.«
Der Minotaurensoldat schien weniger gleichmütig zu sein. »Ja«, erwiderte der zurechtgewiesene Soldat. »Wir schätzen, daß sie morgen mittag hier sind.«
Zur Überraschung des Soldaten schien der Nachtmeister sich an dieser Nachricht nicht im mindesten zu stören. Im Gegenteil, er wirkte erfrischt und machte sich wieder an die Arbeit. Eifrig schrieb er an die Ränder des Buches, das er gelesen hatte.
Der Nachtmeister schaute auf. Diesmal wirkte er doch irritiert. »Ja? Ist noch etwas?«
»N-nein, Exzellenz«, stammelte der Soldat, der sich umdrehte, um zu verschwinden.
Gut, sagte der Nachtmeister zu sich. Die Menschen, die angeblich von einem Zwerg und einem Elfen begleitet wurden, waren unterwegs, und die Kyrie hatten sich ihnen angeschlossen. Das kam allerdings unerwartet. Er würde seinen Plan etwas ändern müssen, aber dafür war noch genug Zeit.
Hinter ihm nickten Fesz und die anderen Mitglieder der Hohen Drei einander zu. Sie vertrauten der Weisheit des Nachtmeisters.
Hinter ihnen schlief Tolpan… mit einem offenen Auge.
Hinter ihm hockte Kitiara lauschend in ihrem Käfig.
Der Tag wurde zur Nacht.
Tolpan schreckte aus dem Schlaf. Er stellte fest, daß er eingedöst war. Es waren Stunden vergangen.
Das Heiligtum des Nachtmeisters brodelte vor Unruhe. Fesz und die anderen beiden Minotaurenschamanen waren dabei, Gegenstände in kleinen Kisten und Rucksäcken zu verstauen. Ein paar Minotaurenwachen waren näher gekommen und schienen Befehle zu erwarten. Der Nachtmeister, auf dessen langem Tisch keine Zauberbücher und Zutaten mehr lagen, stand in der Mitte des Lagers und erteilte Anweisungen.
Er trug seine volle Zeremonialkleidung. Büschelweise strömten Federn und Glöckchen von seinem gehörnten Kopf, und um die bulligen Schultern hatte er einen dunkelroten Umhang geworfen.
»He, was ist denn los?« fragte Tolpan gutgelaunt, als er zu Dogz schlenderte, der eilig seine eigenen Sachen einpackte.
Dogz drehte sich zu dem Kender um. »Der Nachtmeister sagt, es ist bald soweit«, meinte er feierlich. »Wir ziehen über Nacht in ein neues Lager um, damit uns die Menschen und Kyrie nicht finden, die auf dem Marsch hierher sind.«
Tolpan dachte über diese Nachricht nach. »Gute Idee«, sagte der Kender begeistert.
Als Fesz Tolpan sah, eilte er herbei. Die Augen des Schamanen glitzerten vor Aufregung. »Der Nachtmeister hat erlaubt, daß du mitkommen darfst«, sagte Fesz. »Du weißt gar nicht, was für ein seltenes Privileg das für einen deiner Rasse darstellt. Eigentlich sind die einzigen Anwesenden bei diesem Spruch der Nachtmeister, die Hohen Drei und das Opfer. Aber er meint, daß ein Kender als Vertreter einer Rasse, die für ihr Glück bekannt ist – besonders ein böser –, Sargonnas nur gefallen kann.«
Tolpans Blick schoß zu Kitiara. Die Kriegerin stand stocksteif mit großen Augen in ihrem Käfig. Ein Ohr hatte sie zum Lauschen an die Holzlatten gelegt.
»Ich bin geehrt«, sagte Tolpan, der sich vor Stolz aufblies. »Mehr als geehrt, ehrlich. Ich bin einfach platt. Ganz gleich, welche kleine Rolle man mir bei dem großen Schauspiel zugedacht hat, ich bin wirklich dankbar. Eigentlich sollte ich dem Nachtmeister persönlich meinen herzlichsten Dank aussprechen.«
Der Kender war bereits unterwegs zum Nachtmeister, doch Fesz packte ihn am Kragen und hielt ihn zurück. »Ich glaube nicht, daß es dem Nachtmeister jetzt passen würde, wo er doch so viele andere, wichtige Dinge im Kopf hat«, meinte Fesz mit gesenkter Stimme.
»Oh«, sagte Tolpan. »Das mag sein.«
Der Kender sah zu, wie zwei Wachen zu dem Holzverschlag gingen. Sie zogen die um sich tretende, schreiende Kitiara Uth Matar heraus und legten ihr dann Beinketten an. Die Arme banden sie ihr mit einem Strick auf dem Rücken fest.
»Falls ihr glaubt, ich lasse mich irgendeinem blöden Gott der Finsternis opfern – oder daß ich gar zulasse, daß ein verdammter Kender mitkommt und sich darüber amüsiert – dann werdet ihr ein böses Erw-«
Die Minotaurenwachen stopften Kitiara mitten im Satz einen Knebel in den Mund. Tolpan bedauerte das, denn er war neugierig, wie um alles in der Welt Kit auf die Idee kam, daß sie irgend jemand außer Sargonnas böse erwachen lassen könnte.
Der Nachtmeister hatte Kitiaras Ausbruch gehört. Sein Rücken spannte sich. Jetzt fuhr er wütend herum und stapfte auf die Kriegerin aus Solace zu.
Zornig spuckte er Kitiara ins Gesicht. Er hatte seine übliche Beherrschung verloren. »Du Tropfen Schleim! Du bist es nicht wert, den Namen des Herrn der Finsteren Rache zu erwähnen! Du bist es nicht wert, in derselben Welt wie er zu leben! Bald wirst du sterben, und im Sterben wirst du mit Sargonnas den Platz tauschen. Du wirst in seine Welt verbannt, während er durch das Portal in unsere Ebene eindringt!«
Fesz, Dogz und die anderen starrten ihn an. Die Inbrunst des Nachtmeisters erschreckte sie. Zögernd legten die Minotaurenwachen Kitiara eine Augenbinde an. Die Kriegerin zappelte vergeblich.
Tolpan wollte gerade etwas Unpassendes sagen, als eine neue, unerwartete Stimme aus der Finsternis erklang.
»Ich denke, der Spruch würde besser wirken, wenn euer Opfer weniger unwillig zu Sargonnas’ Vergnügen sterben würde!«
Raistlin! Das war Raistlins Stimme! Tolpan würde sie überall erkennen, selbst hier an diesem abgelegenen Ort. Kit hörte auf, sich zu wehren. Also erkannte auch sie die Stimme ihres Halbbruders.
Aber wo war er? Raistlin war nirgends zu sehen.
Die Wachen umklammerten nervös ihre Waffen. Dogz zog sein Breitschwert. Besorgt warf er Blicke nach allen Seiten. Die Hohen Drei stellten sich zusammen, um notfalls einen Zauberspruch zu sagen.
Beim Klang der Stimme war der Nachtmeister herumgefahren, sah aber nichts. Tolpan konnte die riesigen Kuhaugen des Oberschamanen sehen, und zu seiner Überraschung erkannte er darin weder Furcht noch Unsicherheit, sondern eine gewisse Erleichterung. Es war, als hätte der Nachtmeister dies erwartet.
»Bist du es?« grollte der Nachtmeister. »Bist du der, den sie Raistlin nennen? Der Halbbruder dieser widerspenstigen Frau?«
»Ich bin Raistlin.«
Tolpan sah sich nach allen Seiten um, konnte sich aber beim besten Willen nicht vorstellen, wo Raistlin sich verbarg.
»Dann zeige dich.«
Es folgte ein leises, trockenes Lachen, danach wieder die scheinbar körperlose Stimme. »Lieber nicht.«
Der Nachtmeister schwieg. Tolpan wollte gerade etwas sagen, als der Nachtmeister seidenweich, fast schnurrend brummte: »Ich verstehe.« Er machte eine umfassende Geste. »Du hast dich unsichtbar gemacht, um den Ring meiner Soldaten zu durchdringen. Bravo! Ich hatte mich schon gefragt, wie du das anstellen willst. Sind deine Gefährten so weit zurück?«
Raistlin zögerte einen Augenblick. »Ich komme allein.«
»Gut.«
»Laß meine Schwester gehen. Ich werde ihren Platz einnehmen.«
Tolpan hörte einen erstickten Schrei und drehte sich zu Kitiara um, die sich aus dem Griff der Wachen loszureißen versuchte. Die Minotauren schienen sich angesichts dieser Stimme, die offenbar zu keinem Körper gehörte, unwohl zu fühlen.
»Phantastische Idee!« rief Tolpan. »Hallo, Raistlin. Ich bin’s, Tolpan! Hast du die magische Flaschenpost bekommen?«
»Ja«, sagte der Nachtmeister, der Tolpan über die Schulter stirnrunzelnd ansah. »Das ist eine phantastische Idee. Aber woher weiß ich, daß du dein Wort hältst?«
»Woher weiß ich, daß du deines hältst?«
Der Nachtmeister überlegte. Fesz kam herbei und flüsterte ihm etwas zu. »Ah«, sagte der Nachtmeister. »Gestatte, daß ich dir Fesz, meinen ältesten Jünger, vorstelle, den höchsten Schamanen nach mir. Geh zu ihm, damit er dir die Hände bindet. Wenn du das getan hast«, er winkte dem Minotaurus von Lacynos, »wird Dogz Kitiara an den Rand des Lagers bringen und sie freilassen. Du hast mein Wort.«
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