In dieser Nacht lag Caramon in der Höhle, die Sonnenfeder ihm überlassen hatte, auf dem Rücken und wartete auf den Schlaf, als Wolkenstürmer ihn holen kam.
Caramon zuckte zusammen, als der Sohn von Sonnenfeder eintrat. Sein Kyriefreund war merkwürdig bemalt und mit Perlen und Muscheln geschmückt. Wolkenstürmer holte eine Augenbinde heraus. Obwohl Caramon sich dabei unwohl fühlte, ließ er sie sich von dem Kyrie vor die Augen binden, so daß er nicht sehen konnte, wohin er gebracht wurde.
Dann hatte Caramon das inzwischen vertraute Gefühl, angehoben und durch die Luft getragen zu werden, diesmal jedoch nur über eine kurze Strecke. Als die Augenbinde abgenommen wurde, befand sich Caramon in einer anderen Höhle mit einem Dutzend Kyriemänner, die wie Wolkenstürmer aufgemacht und geschmückt waren. Einige von ihnen hatte er bereits kennengelernt. Andere hatte er noch nie gesehen.
Sie saßen im Schneidersitz im Kreis. Als sich Caramon, geführt von Wolkenstürmer, zu der Gruppe gesellte, stand einer der Kyrie auf, kam zu ihm, bemalte sein Gesicht mit aschgrauen Zickzacklinien und legte ihm den zeremoniellen Feder- und Edelsteinschmuck um. Caramon wußte, daß dieser Kyrie Wolkenstürmers Freund war. Er hieß Vogelgeist.
Die Vogelmenschen reichten sich die Hände und begannen ein Lied in ihrer Kyriesprache. Caramon wurde zwischen zwei Kyrie gesetzt, die er nicht kannte. Als er sich umschaute, bemerkte er, daß Wolkenstürmer verschwunden war. Die Kyrie faßten seine Hände. Obwohl der junge Krieger keine Ahnung hatte, was die Kyrie sangen, fühlte sich Caramon von ihrem feierlichen Ritual angezogen.
Das Singen dauerte lange. Caramon merkte, wie er allmählich davon eingelullt wurde. Als er die Augen aufriß, sah er, daß auch die anderen ihre Augen geschlossen hatten. Die Kyrie hatten sich gezielt in Trance versetzt. Jemand hatte Räucherstäbchen angezündet, und ein durchdringender Geruch, der von Rauchkringeln begleitet wurde, erfüllte die Höhle.
Ganz plötzlich hörte das Singen auf, und aus einer dunklen Ecke kam Wolkenstürmer mit einer großen, schweren Holzkiste wieder zu ihnen. Vorsichtig stellte er sie in die Kreismitte. Alle verfolgten jede seiner Bewegungen, als sich der Kyrie bückte, den verriegelten Deckel öffnete und – Caramon hielt die Luft an – einen seltenen Meeresdrachen herauszog.
Der Meeresdrache war groß. Mit seinem echsenartigen Kopf, der dicken, dunklen Schale, den Schwimmhäuten an den Zehen und den umfangreichen, paddelähnlichen Flossen ähnelte er einer Riesenschildkröte. Caramon wußte, daß diese wilden Tiere, die keine echten Drachen waren, dafür berüchtigt waren, Schiffe anzugreifen. Sie wurden selten lebend gefangen. Obwohl sie sowohl Luft als auch Wasser atmen konnten, überlebten sie auf dem Trockenen nicht lange.
Wolkenstürmer hielt ihn hoch und überreichte ihn mit theatralischer Geste Vogelgeist, der Caramon gegenüber saß. Der Kopf des Meeresdrachen peitschte herum, seine mächtigen Kiefer schnappten in die Luft. Minutenlang hielt Vogelgeist den Meeresdrachen über seinen Kopf, wobei er sang und murmelte, während das ungezähmte Tier mit aller Kraft bemüht war, sich seinem Griff zu entwinden und ihn anzugreifen.
Vogelgeist gab den Meeresdrachen an Wolkenstürmer zurück, der ihn dem nächsten Kyrie reichte. So ging es im Kreis herum, bis Wolkenstürmer das Tier zu Caramon brachte. Die anderen beobachteten ihn eindringlich. Aus der Nähe war das Meerestier abstoßend. Es kreischte, peitschte mit dem Schwanz, stieß mit dem Maul zu. Caramon zögerte einen Augenblick und nahm Wolkenstürmer den Meeresdrachen ab.
Er folgte dem Beispiel der anderen und hielt den Meeresdrachen über seinen Kopf, schwieg aber, während die anderen Kyrie für ihn sangen. Der Majerezwilling hielt das Tier hoch, bis ihm die Arme wehtaten. Dann nahm er ihn herunter und gab ihn Wolkenstürmer zurück.
Wolkenstürmer sah Caramon in die Augen und gab den Meeresdrachen an den nächsten Kyrie weiter.
Nachdem der Meeresdrache die Runde gemacht hatte, wurde der Gesang lauter, während Wolkenstürmer das Tier in der Mitte des Kreises auf den Boden drückte. Er zog ein langes, scharfes Messer heraus, und als das Tier sich im Bemühen zu fliehen herumwarf, stieß Wolkenstürmer ihm wieder und wieder das Messer in den Rücken, um die Schale zu durchbohren. Vogelgeist eilte mit einer Schale hin, mit der er das Blut und die Körpersäfte des Meerestiers auffing.
Nach einer Weile lag das Tier still. Einer der Kyrie brachte den toten Körper zurück in die Kiste und zog diese zur Seite.
Wieder wandte sich Wolkenstürmer zuerst Vogelgeist zu. Diesmal reichte er seinem Freund das Messer. Vogelgeist nahm das Messer und schnitt sich quer über den Unterarm, so daß Blut aus der Wunde tropfte. Wolkenstürmer fing etwas Blut in der Schale auf, nahm Vogelgeist dann die Schale ab und gab sie im Kreis weiter.
Einer nach dem anderen schnitten sich die anderen und ließen ihr eigenes Blut in die Schale mit den Körpersäften des seltenen Meeresdrachen tropfen.
Als das Messer bei Caramon ankam, sah er auf und begegnete wieder Wolkenstürmers Blick. Ohne zu wissen warum, aber im Vertrauen auf die Rituale dieser guten, ehrenvollen Rasse der Vogelmenschen, schnitt sich Caramon in den Unterarm. Da er unerfahren war, geriet ihm der Schnitt ziemlich tief, und nachdem Blut in die Schale gesprudelt war, mußte er die Hand auf den Arm drücken, um den Blutfluß zu stoppen.
Wolkenstürmer vollzog das Ritual als letzter.
Alles schwieg jetzt. Niemand sang mehr. Keiner rührte sich.
Wolkenstürmer kniete in der Mitte des Kreises. Er trank als erster aus der Schale. Er wollte sie Vogelgeist reichen, hielt dann jedoch noch einmal inne. Der Sohn von Sonnenfeder, Bruder von Morgenhimmel, Erbe der Herrschaft über die Kyrie, drehte sich um und brachte die Schale Caramon Majere.
Um ehrlich zu sein, wurde Caramon ganz schlecht bei dem Gedanken, diese Mischung zu trinken, aber bisher hatte er alles mitgemacht. Er würde tun, um was man ihn bat. Nachdem er die Schale mit beiden Händen umfaßt hatte, setzte er die lauwarme Flüssigkeit an die Lippen und würgte etwas davon herunter.
Als er aufblickte, entdeckte er Anerkennung in Wolkenstürmers Augen. Im Kreis sah er nickende Gesichter.
Die Schale ging im Kreis herum.
Caramon war nicht der einzige Krieger, dem in jener Nacht beim Meeresdrachenritual schlecht wurde. Minuten nach dem Trinken der Blutmischung war er hinausgerannt, um sich in der Dunkelheit mehrfach zu übergeben.
Hinterher erklärte Wolkenstürmer Caramon mit trockenem Grinsen, daß das nicht als unehrenhaft galt. Caramon hatte sich gereinigt und würde jetzt als einer von ihnen angesehen werden. Als Ehrenmitglied – denn er war kein Kyrie – ihrer Kriegergemeinschaft.
12
Die Grube des Untergangs
Früh am Morgen vor ihrem Aufbruch nach Atossa trank Tolpan die doppelte Dosis seines Tranks. Er sagte, er fände allmählich Gefallen an dem Geschmack – milchig, einen Tick süßlich –, so daß es für Fesz kein Problem darstellte, ihm alles einzuflößen.
Weil er den Kender gut kannte, wurde Dogz dazu ausersehen, sie auf der Reise von Lacynos nach Atossa und von dort aus weiter nach Karthay zu begleiten. Er sollte Tolpan bewachen.
»Nun, sagen wir lieber, als Leibwächter«, hörte Tolpan Fesz zu Dogz sagen.
Dogz stieß Tolpans neues Verhalten ab, denn er benahm sich weniger wie ein Kender als einfach böse. Der riesige Minotaurus versuchte, sich der Aufgabe durch Betteln zu entziehen, aber Fesz bestand auf Dogz’ Begleitung.
»Er hält dich für seinen Freund«, sagte Fesz weise und fügte hinzu: »Außerdem ist das ein Befehl.«
In einem halben Tag brachten sie die Strecke nach Atossa mit einer königlichen Kutsche hinter sich, die von schlanken, schwarzen Pferden gezogen wurde. Gleichermaßen zur Schau wie zum Schutz donnerte ein Trupp komplett bewaffneter Minotaurensoldaten neben ihnen her und wirbelte Staubwolken auf. Die Straße war steinig und voller Schlaglöcher, so daß Minotauren und Kender wiederholt in ihren Sitzen durchgerüttelt wurden.
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