„Das Tor zur Hölle“, keuchte Jael neben ihr. „Godrik öffnet es! Die Chaos-Dämonen brechen in unsere Welt!“ Ihre Stimme zitterte vor Erregung und nur mühsam unterdrückter Panik.
Godrik schrie noch immer Worte in jener uralten Sprache, die kaum noch ein Wesen in Ancaria verstand. Er hatte den Opferdolch weit erhoben, und unter ihm, unter seiner streichelnden linken Hand, wand sich die Nackte und begriff nicht, was mit ihr geschah. Godrik missbrauchte nicht nur ihren Körper, er hatte auch ihre Seele versklavt und sie sich völlig Untertan gemacht.
Jael ahnte, was das bedeutete und was nun folgen würde. „Wenn er das Mädchen opfert, ist das Ritual geglückt!“, rief sie. „Dann bricht die Hölle in diese Welt!“
Über den uralten Gebäuden riss der Himmel immer weiter auf, glühender Dampf wölkte aus dem Spalt hervor, und Zara glaubte sogar, gierige Krallen zu erkennen, die von innen her versuchten, den Spalt zu erweitern und aufzureißen. Die Chaos-Dämonen wollten sich ihren Weg in die Welt der Sterblichen bahnen, aber noch fehlte ihnen das Blut eines Menschen – eines unschuldigen Menschen, der durch den Zauber Godriks verdorben wurde; das Blut einer Jungfrau, die in Fleischeslust starb!
Zara hatte begriffen: Wenn das Mädchen geopfert wurde, in jenem Moment, in dem die Mondfinsternis komplett war, dann war das Ritual vollzogen, dann würden die Chaos-Dämonen in diese Welt einbrechen!
Plötzlich konnte sie Godriks Worte klar und deutlich verstehen, als er schrie: „Ihr Götter des Chaos! Nehmt dieses Opfer an! Ein unschuldiges Menschenkind, das in Sünde stirbt! Eine reine Seele, die ich euch befleckt schicke!“
Und als das letzte Wort verklungen war, bedeckte der Erdschatten vollständig den Mond, und tiefste Finsternis legte sich über Ancaria, nur erhellt von den Fackeln der Kuttenträger.
Jael wollte aufspringen, aufschreien, irgendetwas tun – es war zu spät!
Die letzte Stunde ist gekommen, wenn sich die Erde zwischen Licht und Schatten drängt...
Aus dem Keuchen des Mädchens wurden spitze Schreie, und die Opferklinge in Godriks Hand blitzte im Fackelschein auf.
Dann bohrte sich die Klinge tief in das Fleisch, und Blut spritzte in einer hellroten Fontäne hervor ...
Doch es war nicht das Fleisch des Mädchens, in das sich die Klinge gebohrt hatte, und es war auch nicht die Klinge von Godriks Opferdolch.
Der Enklavenvorsteher selbst war es, der den scharfen Stahl zu schmecken bekam. Zaras Messer war wie ein Blitz durch die Nacht gezuckt und hatte sich tief in den Hals Godriks gebohrt!
Der Einäugige riss den Mund weit auf, um zu schreien, doch nur ein Gurgeln kam aus seiner Kehle, gefolgt von schäumendem Blut. Er ließ den Opferdolch fallen, hob die andere Hand, um nach dem Messer in seinem Hals zu greifen, schaffte es jedoch nicht, und während die Nackte auf dem Opferstein aus ihrer Trance erwachte, den Sterbenden sah und gellend aufschrie, kippte er röchelnd um, blieb am Boden liegen, zuckend, um sich schlagend und strampelnd – und ertrank an seinem eigenen Blut.
Jael und Falk hatten die Augen weit aufgerissen. Sie konnten kaum glauben, was sie sahen. Beide hatten sie nicht bemerkt, wie Zara neben ihnen aufgesprungen und auf die Kuttenträger zugestürmt war – mit einer Geschwindigkeit, in der sich nur die Kinder der Nacht, die Vampire, bewegen konnten, schneller, als das menschliche Auge sie zu erfassen vermochte.
Jetzt stand sie vor den Kuttenträgern, breitbeinig und grimmig schauend, und sie zog ihre beiden Schwerter. Es war eine fast gemächliche Bewegung, mit der sie dies tat, provozierend langsam und drohend, und ein Raunen ging durch die Höllendiener, das eine Mischung aus Zorn und Entsetzen in sich barg. Sie hatten sich Zara zugewandt, rührten sich jedoch nicht, und auch die Kriegerin unternahm zunächst nichts, sondern erwartete den Angriff der Dämonenknechte.
Für einen langen Moment tat sich nichts – dann rückten die Kuttenträger auf Zara zu.
„Kommt nur!“, knurrte Zara ihnen entgegen und fletschte die Zähne wie ein wildes Tier. Sie wusste, dass sich sehr mächtige Zauberer unter ihren Feinden befanden, und sie machte sich darauf gefasst, es mit übermenschlichen Gegnern zu tun zu bekommen, deren dunkler Magie sie nichts entgegenzusetzen hatte. Trotzdem wich sie keinen Schritt zurück und erwartete den Angriff.
„Ja, kommt nur!“, ertönte es in diesem Moment hinter ihr. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, was in ihrem Rücken geschah. Jael und Falk hatten sich erhoben und näherten sich, die Waffen in den Händen, kampfbereit und entschlossen wie Zara. Sie mussten einen beeindruckenden Anblick bieten, denn die Kuttenträger verharrten, blieben stehen, als wären sie vor eine unsichtbare Wand gelaufen.
Neben sich vernahm Zara ein Knurren – ein Knurren, das ihr in den letzten Tagen vertraut geworden war. Thor befand sich bereits an ihrer Seite, um seine Herrin notfalls mit dem Leben zu verteidigen.
Während sich Jael und Falk der Vampirin näherten, setzten sich auch die Kuttenträger wieder in Bewegung, schritten auf Zara zu, die nun die langen Barte sah, die unter den Kutten hervorwallten. Sie ließen die Fackeln fallen, und einige von ihnen zogen blitzende Schwerter und Dolche unter ihren Mänteln hervor, andere senkten ihre Zauberstäbe, um die Vampirin mit ihrer Magie anzugreifen, und Zara machte sich auf das Schlimmste gefasst.
„Halt!“
Die Dämonendiener verharrten. Es war die Gestalt im roten Umhang, die ihnen Einhalt geboten hatte. Sie trat nun vor, und die Kuttenträger schufen ihr eine Gasse, sodass sie sich bis auf wenige Schritte Zara nähern konnte und dann stehen blieb. Inzwischen hatten Falk und Jael ihre Gefährtin erreicht.
„Das Ritual ist gescheitert“, sagte Zara zu der Gestalt im roten Umhang und zeigte keine Furcht, keinerlei Emotion, obwohl ihr Inneres bebte und zitterte vor Erregung und Anspannung. „Die Chaos-Dämonen werden nicht in diese Welt eindringen!“
Ein Kichern drang unter der roten Kapuze hervor, unter der das Gesicht der Gestalt nicht zu erkennen war. Sie wandte den Kopf, blickte hinter sich und empor zum sternenlosen Himmel, wo der „Riss“ noch immer zu sehen war. Nichts hatte sich verändert, weiterhin drang glühender Nebel daraus hervor, und ein leises Fauchen lag in der eiskalten Luft. Nur der Schatten der Erde löste sich allmählich wieder vom bleichen Antlitz des Mondes.
Die Gestalt wandte sich wieder Zara zu, und eine volltönende männliche Stimme erklang. „Noch ist nichts verloren. Noch warten die Dämonen darauf, eure Welt heimsuchen zu können. Es kann funktionieren. Es wird funktionieren. Auch ohne Blutopfer. Die Magie der Jungfrauenherzen ist stark und wirkt noch immer.“
„Die Jungfrauenherzen, die Ihr unschuldigen Mädchen aus der Brust habt reißen lassen von Euren Blutbestien!“, ergriff Jael das Wort.
Die Gestalt nickte nur.
„Dann seit Ihr Ishmael Thurlak, der angeblich seit Jahren tot ist?“, fragte Zara.
Wieder nickte die Gestalt. „Das ist mein wirklicher Name. Obwohl“, fügte der Unheimliche hinzu, „du mich unter einem anderen kennst!“
Damit hob er die Hände, fuhr damit zur Kapuze, ergriff deren Saum und schlug sie zurück. Darunter hervor kam ein männliches Gesicht mit sehr markanten Zügen, in dem das Auffalligste das leicht hervorspringende Kinn und der gepflegte, kurz geschnittene Vollbart waren.
Zara kannte dieses Gesicht.
„Gregor ...“, flüsterte sie.
Ein Ring aus Eis schien sich um ihr Herz zu legen und es einfrieren zu lassen. Sie konnte nicht fassen, was sie sah, wollte es nicht fassen.
Aber es war die Wirklichkeit, sie sah es mit eigenen Augen, und als sie die Wahrheit akzeptierte, war nur noch Schmerz in ihr. Schmerz und Enttäuschung. Das Gefühl, das sich alles Menschliche für immer von ihr abgewandt hatte. Sie zitterte am ganzen Leib, ohne es zu merken, starrte auf den breitschultrigen, hoch gewachsenen Mann vor sich, und ihre beiden Schwerter glitten ihr fast aus den Händen. „Sag mir, dass du es nicht bist, Gregor ...“
Читать дальше