Zara hatte immer geahnt, dass es sich bei Thor um ein besonderes Tier handelte. Das hatte sie bereits gespürt, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, in der Nähe von Moorbruch, als sie ihn aus dem Fangeisen befreite. Dass er sie jetzt so sicher durch das gefährliche Moor führte, bestätigte ihre Vermutung. Nein, Thor war kein gewöhnlicher Wolf. Da steckte noch mehr dahinter, irgendein Geheimnis umgab ihn.
Plötzlich spürte die Vampirin Jaels Hand auf ihrem Arm und verhielt im Schritt. „Schau hoch zum Himmel“, flüsterte die Seraphim. „Es ist soweit!“
Zara blickte auf – und sah, wie sich ein kreisrunder Schatten langsam vor den Vollmond schob. Die Mondfinsternis begann.
„Die letzte Stunde ist gekommen, wenn sich die Erde zwischen Licht und Schatten drängt...“, flüsterte Zara. „Es geschieht! Wir kommen zu spät!“
„Noch ist nichts verloren!“, gab sich Jael überzeugt. „Aber wir müssen uns beeilen!“
„Wenn wir den Ort des Rituals nicht sofort finden ...“, begann Zara.
„Wir haben diesen weiten Weg nicht beschritten, um so dicht vor dem Ziel aufzugeben!“, widersprach Jael. „Wir müssen ihn jetzt bis zum Ende gehen!“
Zara nickte. Die Seraphim hatte Recht. Was immer kommen mochte, die Stunde der Entscheidung war angebrochen.
Einige Meter vor ihnen hatte Thor auf sie gewartet, nun setzte er sich wieder in Bewegung, und die drei Gefährten folgten ihm.
Das Moor um sie herum gluckste und schien zu brodeln. Wie knochige Finger streckten die Trauerweiden ihre Zweige nach den Gefährten aus, aber unbeschadet erreichten sie schließlich festen Boden.
Thor war erneut stehen geblieben und erwartete sie. Zara ließ sich neben ihm nieder und kraulte ihn hinter den Ohren. „Gut gemacht, mein Freund“, lobte sie das Tier.
Thor hechelte freudig, als würde er ihre Worte genau verstehen.
„Still!“, zischte Jael auf einmal und hob die Hand, und jetzt hörte Zara es auch. Ein Singsang lag in der Luft, unheilvoll und drohend, hervorgebracht von mehreren männlichen Kehlen. Ein Gesang aus uralter Zeit. In einer Sprache, die längst nicht mehr gesprochen wurde.
„Hier entlang!“, wies Jael die Gefährten an und schob sich zwischen die Zweige eines Busches. Falk, die Vampirin und der Wolf folgten ihr, und sie bewegten sich nahezu lautlos durchs Unterholz und dem unheimlichen Singsang entgegen. Durch Zweige und Geäst erhaschte Zara wieder einen Blick auf den Himmel, und sie sah, wie sich der Schatten der Welt immer mehr über den vollen Mond schob; eine Eishand schien über ihren Rücken zu streichen.
Vor ihr bewegte sich Jael, und hinter sich hörte sie Falks keuchenden Atem. Es ging aufwärts, eine steile Böschung hinauf – und dann hatten sie freie Sicht auf eine uralte Tempelanlage.
Es waren mehrere alte Gebäude, aus grauen und zum Teil fast schwarzen Steinblöcken errichtet. Altäre sahen sie, mehrere Grüfte. Einige der Gebäude schienen verfallen, und ein paar davon hatten schmiedeeiserne Gitter vor den Eingängen, die vor sich hinrosteten. Auch hier waberte Nebel über dem Boden, aber nicht mehr so dicht wie im Sumpf.
Alles war deutlich zu erkennen – wegen der Fackeln, die ihr rötliches, flackerndes Licht verstreuten. Und die Gefährten sahen auch die gut zwei Dutzend von Kapuzenmäntein verhüllten Gestalten, von denen die meisten Fackeln trugen. Einige von ihnen hielten aber auch mannshohe knorrige Holzstäbe in den Händen – Zauberstäbe, wie Zara sofort erkannte.
„Es sind Zauberer von Sternental!“, sagte Jael, die nun neben Falk und Zara auf der Anhöhe der Böschung lag und auf das Geschehen hinabblickte. „Die Kerle mit den langen Stäben – sie gehören zum Rat der Bruderschaft!“, zischte sie erregt. „Diese miesen Verräter!“
Der seltsame Singsang ging von den Kapuzenträgern aus. Sie standen im Halbkreis vor einem Altar oder Opferstein. Gut drei Schritte vor ihnen stand eine weitere Gestalt, die ein Anführer zu sein schien. Sie fiel durch den roten Kapuzenumhang auf, den sie trug, denn die Mäntel der anderen Anwesenden wiesen allesamt ein erdiges Braun auf.
Falk zuckte leicht zusammen. Er erinnerte sich an seinen Traum, der ihn in den Nimmermehrsümpfen heimgesucht hatte. Da hatte ihn eine Gestalt in einem roten Kapuzenumhang durch ein düsteres Labyrinth gehetzt. Eine Gestalt, die behauptet hatte, dass Falk und sie sich kennen würden. War dies dort vorn diese unheimliche Gestalt?
Für Zara und Jael indes war viel interessanter, was sich bei und auf dem Altar tat. Darauf lag ein junges Mädchen, keine zwanzig Jahre alt. Es lag auf dem Rücken, schien wie in Trance, stöhnte und keuchte, hatte die Augen geschlossen, und ihr hübsches Gesicht zeigte Verzückung. Goldblondes Haar umwallte ihren Kopf, und sie trug keinen Faden am Leib.
Sie stöhnte, wand sich, fuhr sich mit der Zunge über die vollen Lippen, und ihr nackter Körper bebte, während die Gestalt, die hinter dem Altar stand, beide Hände immer wieder dicht über den nackten Mädchenkörper gleiten ließ, als würden sie ihn streicheln, ohne ihn jedoch dabei zu berühren. Das Ganze erinnerte an eine erotische Liebkosung, als würde die Gestalt mit unsichtbaren Fingern den nackten Körper betasten und das Mädchen in Wolllust und Verzückung versetzen. Zara erkannte, das dies auch so war. Die Luft um Mädchen und Altar schien zu knistern vor Gier und Fleischeslust, und die junge Frau schien nicht mehr Herrin ihrer Sinne und fieberte dem Höhepunkt entgegen.
Derjenige, der sie in diesen Zustand versetzte, war offensichtlich ein mächtiger Zauberer, der wusste, wie man Menschen in seine Gewalt brachte. Da die Kapuze seines Umhangs zurückgeschlagen war, konnte Zara ihn auch genau erkennen.
Es war Godrik!
Der Vorsteher der Magierenklave Sternental!
„Dieser Hund!“, zischte Jael neben Zara. „Er steckt also mit dem Sakkara-Kult unter einer Decke!“
„Nicht nur das“, knirschte Zara. „Er scheint sogar der Anführer zu sein.“
Die Seraphim schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht glauben. Nein, das hätte ich gespürt. Er mag ein mächtiger Zauberer sein, aber er ist ein schwacher Mensch. Er hat nicht das Zeug, den Sakkara-Orden zu führen!“
Zara warf einen Blick zum Nachthimmel. Die Sterne waren verschwunden, leuchteten nicht mehr. Etwas schien ihr Licht zu verschlucken, eine unheimliche düstere Magie. Und der Schatten der Erde schob sich immer mehr über den Vollmond, bedeckte ihn bereits fast vollständig.
Plötzlich verstummte der Singsang, endete wie abgeschnitten, aber es wurde nicht still, denn Godrik, der einäugige Magier, begann jetzt zu sprechen. Es waren Worte in einer uralten Sprache, die er hervorbrachte, und es hörte sich an, als würde er beten. Er rief die dunklen Götter an, das war den drei Gefährten sofort klar, und er zog einen Opferdolch mit breiter Klinge unter seinem Gewandt hervor, während die andere Hand noch immer über den nackten Leib des Mädchens glitt, das in Ekstase zuckte und sich wand.
Godrik rief gutturale Worte in einer Sprache, die längst tot war. Immer lauter rief er sie, seine Stimme hallte über den Platz zwischen den alten Tempeln und Grüften, und seine Anhängerschaft lauschte ihm schweigend. Ansonsten war nur das Stöhnen und Keuchen der Nackten zu hören, deren Wolllust sich immer mehr in Raserei zu steigern schien. Ihr schlanker Mädchenkörper war mit Schweiß bedeckt, das Gesicht verzerrt und die Augen zugekniffen, während sie sich auf die Unterlippe biss, weil sie diesen Zustand absoluter Lust kaum noch aushielt.
Godrik schrie die Worte in die Nacht, hinauf zum Himmel, wo vom Vollmond nur noch eine blasse Sichel zu sehen war, da sich der Erdschatten immer mehr über ihn schob.
Und während Godrik rief, brach der Himmel auf!
Ein Spalt entstand im Sternen- und wolkenlosen Firmament. Ein hell leuchtender Riss, aus dem ein glühender Nebel sickerte und der aussah wie eine Wunde, die aufklaffte. Immer größer wurde der Spalt, und Zara glaubte, ihren Augen nicht trauen zu dürfen.
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