»Wie geht's deinem Bruder Charlie?«, fragte Hagrid Ron. »Mochte ihn sehr gern, konnte prima mit Tieren umgehen.«
Harry fragte sich, ob Hagrid das Thema absichtlich gewechselt hatte. Während Ron Hagrid von Charlies Arbeit mit den Drachen erzählte, zog Harry ein Blatt Papier unter der Teehaube hervor. Es war ein Ausschnitt aus dem Tagespropheten:
Neues vom Einbruch bei Gringotts
Die Ermittlungen im Fall des Einbruchs bei Gringotts vom 31. Juli werden fortgesetzt. Allgemein wird vermutet, daß es sich um die Tat schwarzer Magier oder Hexen handelt. Um wen genau es sich handelt, ist jedoch unklar.
Vertreter der Kobolde bei Gringotts bekräftigten heute noch einmal, daß nichts gestohlen wurde. Das Verlies, das durchsucht wurde, war zufällig am selben Tag geleert worden.
»Wir sagen Ihnen allerdings nicht, was drin war, also halten Sie Ihre Nasen da raus, falls Sie wissen, was gut für Sie ist«, sagte ein offizieller Koboldsprecher von Gringotts heute Nachmittag.
Harry erinnerte sich, daß Ron ihm im Zug gesagt hatte, jemand habe versucht, Gringotts auszurauben. Doch Ron hatte nicht erwähnt, an welchem Tag das war.
»Hagrid!«, rief Harry,»dieser Einbruch bei Gringotts war an meinem Geburtstag! Vielleicht sogar, während wir dort waren«
Diesmal konnte es keinen Zweifel geben: Hagrid blickte Harry nicht in die Augen. Er stöhnte auf und bot ihm noch (,in Plätzchen an. Harry las den Zeitungsartikel noch einmal durch. Das Verlies, das durchsucht wurde, war zufällig am selben Tag geleert worden. Hagrid hatte Verlies siebenhundertneunzehn geleert, wenn man es so nennen konnte, denn er hatte nur dieses schmutzige kleine Paket herausgeholt. War es das, wonach die Diebe gesucht hatten?
Als Harry und Ron zum Abendessen ins Schloß zurückkehrten, waren ihre Taschen voll gestopft mit den steinharten Plätzchen, die sie aus Höflichkeit nicht hatten ablehnen wollen. Harry überlegte, daß ihm bisher keine Unterrichtsstunde so viel Stoff zum Nachdenken geliefert hatte wie dieser Teenachmittag bei Hagrid. Hatte Hagrid dieses Päckchen gerade noch rechtzeitig geholt? Wo war es jetzt? Und wußte Hagrid mehr über Snape, Als er Harry erzählen wollte?
Harry hätte sich nicht träumen lassen, daß er je auf einen jungen stoßen würde, den er mehr haßte als Dudley bis er Draco Malfoy kennen lernte. Ein Glück, daß die Erstkläßler von Gryffindor nur die Zaubertrankstunden gemeinsam mit den Slytherins hatten und sie sich deshalb nicht allzu lange mit Malfoy abgeben mußten. Wenigstens taten sie es nicht, bis sie am schwarzen Brett ihres Aufenthaltsraumes eine Notiz bemerkten, die sie alle aufstöhnen ließ. Die Flugstunden würden am Donnerstag beginnen. Und Gryffindor und Slytherin sollten zusammen Unterricht haben.
»Das hat mir gerade noch gefehlt«, sagte Harry mit düsterer Stimme. »Genau das, was ich immer wollte. Mich vor den Augen Malfoys auf einem Besen lächerlich machen.«
Auf das Fliegenlernen hatte er sich mehr gefreut als auf alles andere.
»Du weißt doch noch gar nicht, ob du dich lächerlich machst«, sagte Ron vernünftigerweise. »jedenfalls weiß ich, daß Malfoy immer damit protzt, wie gut er im Quidditch ist, aber ich wette, das ist alles nur Gerede.«
Malfoy sprach in der Tat ausgiebig vom Fliegen. Er beklagte sich lauthals, daß die Erstkläßler es nie schafften, in eines der Quidditch-Teams aufgenommen zu werden, und erzählte langatmige Geschichten, die immer damit zu enden schienen, daß er um Haaresbreite irgendwelchen Muggeln in Hubschraubern entkommen war. Allerdings war er nicht der Einzige: Seamus Finnigan jedenfalls ließ durchblicken, daß er den größten Teil seiner Kindheit damit verbracht habe, auf einem Besen übers Land zu brausen. Selbst Ron erzählte jedem, der es hören wollte, wie er auf Charlies altem Besen einmal fast mit einem Drachenflieger zusammengestoßen sei. Alle Schüler aus Zaubererfamilien redeten ständig über Quidditch. Mit Dean Thomas, der auch in ihrem Schlafsaal war, hatte sich Ron bereits einen heftigen Streit über Fußball geliefert. Ron konnte einfach nicht einsehen, was so spannend sein sollte.in einem Spiel mit nur einem Ball, bei dem es nicht erlaubt war zu fliegen. Harry hatte Ron dabei erwischt, wie er vor Deans Poster von dessen Lieblingsfußballmannschaft stand und die Spieler anfeuerte, sich doch endlich zu bewegen.
Neville wiederum hatte noch nie einen Besen bestiegen. Seine Großmutter wollte ihn nicht einmal in die Nähe eines solchen Fluggeräts lassen. Harry gab ihr im Stillen Recht, denn Neville schaffte es sogar, mit beiden Füßen fest auf dem Boden eine erstaunliche Zahl von Unfällen zu erleiden.
Fast so nervös wie Neville, wenn es ans Fliegen ging, war Hermine Granger. Fliegen war etwas, was man nicht aus einem Buch auswendig lernen konnte – nicht, daß sie es nicht versucht hätte. Beim Frühstück am Donnerstagmorgen langweilte sie alle mit dummen Flugtips, die sie in einem Bibliotheksband namens Quidditch im Wandel der Zeiten gefunden hatte. Neville hing ihr an den Lippen, begierig auf alles, was ihm nachher helfen könnte, auf dem Besen zu bleiben, doch alle anderen waren erleichtert, als die Ankunft der Post Hermines Vorlesung unterbrach.
Seit Hagrids Einladung hatte Harry keinen einzigen Brief mehr bekommen, was Malfoy natürlich schnell bemerkt hatte. Malfoys Adlereule brachte ihm immer Päckchen mit Süßigkeiten von daheim, die er am Tisch der Slytherins genüßlich auspackte.
Eine Schleiereule brachte Neville ein kleines Päckchen von seiner Großmutter. Er öffnete es ganz aufgeregt und zeigte den andern eine Glaskugel, die einer großen Murmel ähnelte und offenbar mit weißem Rauch gefüllt war.
»Ein Erinnermich«, erklärte er. »Oma weiß, daß ich ständig alles vergesse. Das Ding hier sagt einem, ob es etwas gibt, was man zu tun vergessen hat. Schaut mal, ihr schließt es ganz fest in die Hand, und wenn es rot wird – oh… «Er schaute betreten drein, denn das Erinnermich erglühte im Nu scharlachrot,»… dann habt ihr etwas vergessen… «
Neville war gerade damit beschäftigt, sich daran zu erinnern, was er vergessen hatte, als Draco Malfoy am Tisch der Gryffindors vorbeiging und ihm das Erinnermich aus der Hand riß.
Harry und Ron sprangen auf Insgeheim hofften sie, einen Grund zu finden, um sich mit Malfoy schlagen zu können, doch Professor McGonagall, die schneller als alle anderen Lehrer der Schule spürte, wenn es Ärger gab, stand schon vor ihnen.
»Was geht hier vor?«
»Malfoy hat mein Erinnermich, Frau Professor.«
Mit zornigem Blick ließ Malfoy das Erinnermich rasch wieder auf den Tisch fallen.
»Wollte nur mal sehen«, sagte er und trottete mit Crabbe und Goyle im Schlepptau davon.
An diesem Nachmittag um halb vier rannten Harry, Ron und die anderen Gryffindors über die Vordertreppe hinaus auf das Schloßgelände, wo die erste Flugstunde stattfinden sollte. Es war ein klarer, ein wenig windiger Tag, und das Gras wellte sich unter ihren Füßen, als sie den sanft abfallenden Hang zu einem flachen Stück Rasen auf der gegenüberliegenden Seite des verbotenen Waldes hinuntergingen, dessen Bäume in der Ferne dunkel wogten.
Die Slytherins waren schon da, und auch, fein säuberlich aneinander gereiht auf dem Boden liegend, zwanzig Besen. Harry hatte gehört, wie Fred und George Weasley sich über die Schulbesen mokierten. Manche davon fingen an zu vibrieren, wenn man zu hoch flog, oder bekamen einen Drall nach links.
jetzt erschien Madam Hooch, ihre Lehrerin. Sie hatte kurzes, graues Haar und gelbe Augen wie ein Falke.
»Nun, worauf wartet ihr noch?«, blaffte sie die Schüler an. »jeder stellt sich neben einem Besen auf. Na los, Beeilung.«
Harry sah hinunter auf seinen Besen. Es war ein altes Modell und einige der Reisigzweige waren kreuz und quer abgespreizt.
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