»Beide haben viel bessere Zeiten als Ihre olle Eclipse «, widersprach sie ihm. Die Frau neckte ihn gern.
Marsh schnaubte. »Das heißt gar nichts. Der Fluß ist jetzt kürzer. Jedes Jahr fehlt ein weiteres Stück. Nicht mehr lange, und man kann von St. Louis nach New Orleans zu Fuß gehen.«
Marsh las noch mehr als nur Zeitungen. Dank Joshua hatte er eine Vorliebe für Gedichte entwickelt, ausgerechnet, und gelegentlich griff er auch nach einem Roman. Er fing auch mit der Holzschnitzerei an und bastelte sich genauestens ausgeführte Modelle von seinen Dampfschiffen, so wie er sie in Erinnerung hatte. Er bemalte sie und wählte für alle den gleichen Maßstab, so daß man sie nebeneinander stellen und sehen konnte, wie groß sie im Verhältnis zueinander gewesen waren. »Das war meine Elizabeth A. «, erklärte er stolz seiner Haushälterin an dem Tag, als er sein sechstes und größtes Modell fertigstellte. »Eins der schönsten Schiffe, die je auf dem Fluß unterwegs waren. Sie hätte Rekorde aufstellen können, wäre das Packeis nicht gewesen. Sie sehen deutlich, wie groß sie war, fast hundert Meter lang. Sehen Sie nur, wie riesig sie neben meiner alten Nick Perrot ist.« Er zeigte auf das betreffende Modell. »Und das ist die Sweet Fevre und die Dunleith — bei der hatte ich große Probleme mit der Backbordmaschine —, und neben der steht meine Mary Clarke . Bei der explodierten die Kessel.« Marsh schüttelte den Kopf. »Dabei starb eine ganze Menge Leute. Vielleicht war es meine Schuld. Ich weiß es nicht. Manchmal denke ich darüber nach. Die kleine am Ende ist die Eli Reynolds . Sie sieht zwar nicht nach viel aus, aber sie war ein zähes altes Mädchen. Sie machte alles mit, was ich von ihr verlangte, und noch viel mehr, und immer war sie unter Dampf und ließ ihr Rad rotieren. Wissen Sie, wie lange dieser häßliche kleine Heckpaddler hielt?«
»Nein«, sagte die Haushälterin. »Hatten Sie denn kein anderes Schiff? Ein richtig schickes? Ich hörte …«
»Vergessen Sie, was Sie gehört haben, verdammt noch mal! Ja, ich hatte ein anderes Schiff. Die Fiebertraum . Sie war nach dem Fluß benannt.«
Die Haushälterin gab ein mißbilligendes Geräusch von sich. »Kein Wunder, daß diese Stadt nie bedeutend geworden ist wie andere, wenn Leute wie Sie dauernd vom Fevre River reden. Sie müssen ja denken, wir wären hier oben alle verrückt. Warum haben Sie das Schiff nicht mit dem richtigen Namen benannt? Der Fluß heißt Galena River.«
Abner Marsh schüttelte den Kopf. »Wechseln die den Namen eines Flusse — so einen verdammten Quatsch habe ich noch nie gehört. Was mich betrifft, so ist es der Fevre River, und es bleibt der Fevre River, ganz gleich, was dieser verfluchte Bürgermeister sagt.« Er blickte die Frau finster an. »Oder was Sie sagen. Zur Hölle, wenn sie weiterhin ihren ganzen Dreck in den Fluß leiten, dann ist das bald kein Fluß mehr, sondern nur noch ein mickriger Bach!«
»Nein, was für schlimme Worte! Ich hätte gedacht, daß jemand, der Gedichte liest, sich einigermaßen anständig und zivilisiert ausdrücken kann.«
»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über meine Sprache«, sagte Marsh. »Und quatschen Sie in der Stadt nicht von den Gedichten, ist das klar? Ich kannte mal einen Mann, der diese Gedichte liebte, und das ist der einzige Grund, warum ich diese Bücher habe. Und Sie sollten nicht Ihre Nase in alles reinstecken, sondern dafür sorgen, daß meine Schiffsmodelle nicht verstauben.«
»Natürlich. Aber sagen Sie mal, wollen Sie von diesem anderen Schiff kein Modell anfertigen? Von dieser Fiebertraum ?«
Marsh lehnte sich in seinem Sessel zurück und schüttelte langsam den Kopf. »Nein«, sagte er, »nein, das werde ich nicht tun. Das ist nämlich das Schiff, das ich am liebsten vergäße. Wischen Sie jetzt endlich Staub, und hören Sie auf, mich mit Ihren dämlichen Fragen zu belästigen.« Er griff nach einer Zeitung und begann eine Meldung über die Natchez und Leathers neuestes Schiff zu lesen. Die Haushälterin schnalzte mit der Zunge und wandte sich endlich wieder ihrer Hausarbeit zu.
Sein Haus hatte einen hohen runden Turm nach Süden hinaus. Abends stieg Marsh mit einem Glas Wein oder einer Tasse Kaffee oft dort hinauf, manchmal auch mit einem Stück Kuchen. Er aß seit dem Krieg nicht mehr so wie früher. Das Essen schien nicht mehr wie sonst zu schmecken. Er war immer noch ein imposanter Mann, aber er hatte seit den Tagen mit Joshua und der Fiebertraum mindestens einhundert Pfund verloren. Am ganzen Körper hing sein Fleisch schlaff herab, als hätte er seine äußere Hülle einige Nummern zu groß gekauft in der Hoffnung, daß sie vielleicht irgendwann einlief. Er hatte auch große schlaffe Tränensäcke. »Die machen mich noch häßlicher, als ich ohnehin schon bin«, knurrte er manchmal, wenn er sich im Spiegel betrachtete.
Wenn er am Turmfenster saß, konnte er auf den Fluß hinausschauen. Er verbrachte viele Abende und Nächte hier oben, lesend, trinkend und aufs Wasser hinausblickend. Der Fluß bot im Mondschein einen wunderschönen Anblick, und er strömte an ihm vorbei, weiter und weiter, wie er schon dahingeströmt war, ehe er geboren wurde, und wie er noch strömen würde, wenn er tot und begraben wäre. Wenn er ihm zusah, breitete sich ein tiefer Frieden in Marsh aus, und dieses Gefühl war ihm sehr wertvoll. Die meiste Zeit über war er müde und melancholisch. Er hatte einmal ein Gedicht von Keats gelesen, in dem es hieß, daß nichts so traurig sei wie etwas Schönes, das sterben muß, und es kam Marsh so vor, als läge auf jedem schönen Ding in dieser Welt der Fluch der Vergänglichkeit. Marsh war auch einsam. Er hatte so lange auf dem Fluß gelebt, daß er in Galena keine richtigen Freunde hatte. Er bekam nie Besuch, redete mit niemandem als mit seiner verdammt lästigen Haushälterin. Sie ärgerte ihn beträchtlich, aber Marsh machte es im Grunde nichts aus; es war das einzige, das ihm gelegentlich noch das Blut in Wallung brachte. Manchmal dachte er, daß sein Leben vorüber sei, und das machte ihn so wütend, daß sich sogar sein Gesicht rötete. Es gab immer noch so viele Dinge, die er nie getan hatte, so viele unerledigte Angelegenheiten … Aber es ließ sich nicht leugnen, daß er alt wurde. Er hatte den alten Hickorystock immer bei sich, um ihn als Zeigestock zu benutzen und um elegant auszusehen. Nun hatte er einen teuren Stock mit goldenem Griff, der ihm das Gehen erleichterte. Und er hatte Falten um die Augen und sogar zwischen den Warzen und einen seltsamen braunen Fleck auf dem Rücken der linken Hand. Manchmal betrachtete er ihn und fragte sich, wie er wohl dorthin gekommen war. Er war ihm nie aufgefallen. Dann zerbiß er einen Fluch zwischen den Zähnen und griff nach einer Zeitung oder nach einem Buch.
Marsh saß in seinem Salon und las in einem Buch von Mister Dickens über seine Fahrten auf dem Fluß und durch Amerika, als seine Haushälterin einen Brief brachte. Er hustete überrascht und legte das Buch von Dickens auf den Tisch, wobei er halblaut murmelte: »Dämlicher Engländer, würde ihn am liebsten in den verdammten Fluß werfen.« Er nahm den Brief entgegen, riß ihn auf und ließ den Umschlag auf den Fußboden flattern. Einen Brief zu erhalten, war schon eine seltene Angelegenheit, aber der war noch sonderbarer; er war an die Fevre River Packets in St. Louis adressiert und ihm nach Galena nachgeschickt worden. Abner Marsh faltete das knisternde, leicht vergilbte Papier auseinander und atmete plötzlich zischend ein.
Es war altes Briefpapier, und er erinnerte sich sehr gut daran. Er hatte es vor dreizehn Jahren drucken und in die Schreibtischschublade in jeder Kabine seines Dampfers legen lassen. Am oberen Rand befand sich eine schöne Federzeichnung von einem großen Seitenraddampfer sowie der Schriftzug FIEBERTRAUM in reichverzierten geschwungenen Lettern. Er kannte auch die Handschrift, diesen graziösen, flüssigen Schwung. Die Nachricht war kurz:
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