»Wie alt bist du?«, fragte sie.
»Fünfzehn. Also genau fünfzehneinhalb.« Sophie wusste nicht, ob das halbe Jahr einen Unterschied machte.
»Fünfzehneinhalb«, wiederholte Dora kopfschüttelnd. »So weit kann ich mich nicht zurückerinnern.« Sie senkte den Kopf und wies dann mit dem Kinn auf Scatty. »Kannst du dich noch an die Zeit erinnern, als du fünfzehn warst?«
»Und ob!«, erwiderte Scatty grimmig. »Habe ich dich um diese Zeit herum nicht in Babylon besucht, wo du mich mit König Nebukadnezar verheiraten wolltest?«
»Da täuschst du dich bestimmt«, meinte Dora fröhlich. »Ich glaube, das war später. Und er hätte bestimmt einen ausgezeichneten Ehemann abgegeben«, fügte sie hinzu. Sie wandte sich wieder Sophie zu, und die sah sich in den Spiegeln, die in den Augenhöhlen der Hexe lagen. »Es gibt zwei Dinge, die ich dir beibringen muss: dich selbst zu schützen – das ist ein Kinderspiel – und die Magie der Lüfte zu beherrschen, was schon etwas schwieriger ist. Der letzte Humani, dem ich versucht habe, Luftmagie beizubringen, hat sechzig Jahre gebraucht, bis er die Grundlagen beherrschte, und dann ist er auf seinem ersten Flug trotzdem vom Himmel gefallen.«
»Sechzig Jahre.« Sophie schluckte. Hieß das, dass sie sich ein Leben lang mit diesem Zweig der Magie befassen musste?
»Gran, so viel Zeit haben wir nicht. Wahrscheinlich haben wir nicht einmal sechzig Minuten.«
Dora wandte das Gesicht einem Bilderrahmen zu, dessen Glas ihre verärgerte Miene widerspiegelte. »Warum machst du es dann nicht, wenn du die Fachfrau dafür bist?«
»Gran...«, seufzte Scatty.
»Nicht in diesem Ton!«, warnte Dora. »Ich mache es auf meine Art.«
»Wir haben keine Zeit, um es auf die traditionelle Art zu machen.«
»Komm du mir nicht mit Tradition. Was wisst ihr Jungen schon davon? Glaub mir, wenn ich fertig bin, weiß Sophie alles, was auch ich über Luftmagie weiß.« Sie wandte sich wieder an Sophie. »Das Wichtigste zuerst: Leben deine Eltern noch?«
»Ja.« Worauf wollte die alte Dame hinaus?
»Gut. Und du sprichst mit deiner Mutter?«
»Ja. Fast jeden Tag.«
Dora schaute Scatty von der Seite her an. »Hast du das gehört? Fast jeden Tag.« Sie nahm Sophies Hand und tätschelte sie. »Vielleicht solltest du Scathach das eine oder andere beibringen. Hast du auch eine Großmutter?«
»Meine Nana, ja, die Mutter meines Vaters. Ich rufe sie normalerweise freitags an.« Sie zuckte schuldbewusst zusammen, als ihr klar wurde, dass heute Freitag war und Nana Newman auf ihren Anruf wartete.
»Jeden Freitag«, sagte die Hexe von Endor bedeutungsvoll und blickte wieder zu Scatty hinüber. Doch die Kriegerprinzessin wandte sich demonstrativ ab und konzentrierte sich auf einen gläsernen Briefbeschwerer. Sie stellte ihn wieder hin, als sie sah, dass ein winziger Mann in einem dreiteiligen Anzug in dem Glas eingeschlossen war. Er hatte eine Aktentasche in der einen und ein Bündel Papiere in der anderen Hand und er blinzelte zornig.
»Es tut nicht weh«, sagte die Hexe.
Sophie war sicher, dass es nicht schlimmer kommen konnte als das, was sie bereits durchmachte. Sie roch verbranntes Holz und spürte eine kühle Brise über ihre Hände wehen. Sie schaute auf sich hinunter. Hauchzarte weiße Spinnfäden schlängelten sich aus den Fingerspitzen der Hexe und legten sich wie eine Mullbinde um jeden Einzelnen von Sophies Fingern, dann über die Mittelhand, über das Handgelenk, und schließlich wanderten sie ihren Arm hinauf. Da merkte sie, dass die Hexe sie mit ihren Fragen nur abgelenkt hatte.
Sophie schaute in ihre Spiegelaugen und stellte fest, dass sie ihre eigenen Fragen nicht in Worte fassen konnte. Es war, als hätte sie die Fähigkeit zu sprechen verloren. Es überraschte sie, dass sie sich nicht fürchtete, aber von dem Augenblick an, als die Hexe ihre Hände ergriffen hatte, war ein tiefes Gefühl der Ruhe und des Friedens über sie gekommen. Sie blickte zu Scatty und Flamel hinüber, die alles mit großen Augen verfolgten.
Auf Scattys Gesicht stand das blanke Entsetzen. »Gran... bist du dir ganz sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher«, fauchte die Hexe ärgerlich.
Und selbst während die Hexe von Endor mit Scatty sprach, hörte Sophie ihre Stimme in ihrem Kopf, hörte, wie sie mit ihr redete, uralte Geheimnisse flüsterte, archaische Zauberformeln murmelte und das Wissen eines langen Lebens innerhalb weniger Herzschläge und Atemzüge weitergab.
»Das ist kein Spinnennetz«, erklärte Dora einem sprachlosen Flamel, als sie merkte, wie er sich vorbeugte und fassungslos auf die Fäden starrte, die sich um Sophies Arme wanden. »Es ist konzentrierte Luft, vermischt mit meiner eigenen Aura. Mein gesamtes Wissen, meine Erfahrungen, selbst meine Intuition sind in diesem Luftnetz eingeschlossen. Sobald es Sophies Haut berührt, fängt sie an, das Wissen in sich aufzunehmen.«
Sophie atmete die nach Holz riechende Luft tief ein. Mit unglaublicher Geschwindigkeit zuckten Bilder durch ihren Kopf – Bilder von längst vergangenen Zeiten und Orten: von Zyklopen gebaute Mauern, Schiffe aus purem Gold, Dinosaurier und Drachen, eine in einen Eisberg geschnitzte Stadt, Wertiere und Monster und Gesichter... Hunderte, Tausende von Gesichtern von menschlichen und halbmenschlichen Wesen aus allen Zeiten. Sie sah alles, was die Hexe von Endor jemals gesehen hatte.
»Die Ägypter haben mich falsch verstanden«, fuhr Dora fort. Ihre Hände bewegten sich jetzt so schnell, dass Flamel die Bewegungen nicht mehr verfolgen konnte. »Sie wickelten die Toten ein. Sie erkannten nicht, dass ich die Lebenden einwickelte. Es gab eine Zeit, in der ich ein wenig von mir selbst in meine Nachfolger legte und sie in die Welt hinausschickte, um in meinem Namen zu lehren. Offenbar beobachtete jemand den Prozess und versuchte ihn nachzumachen.«
Plötzlich sah Sophie ein Dutzend junger Leute, eingewickelt wie sie, und eine jünger aussehende Dora, die in einem Gewand, wie man es vielleicht im alten Babylon getragen hatte, zwischen ihnen hin und her ging. Sophie wusste intuitiv, dass dies die Priester und Priesterinnen der Gemeinde waren, die der Hexe huldigten. Dora gab etwas von ihrem Wissen an sie weiter, damit sie hinausgehen konnten in die Welt und andere lehrten.
Das weiße, luftige Netz legte sich jetzt um Sophies Beine und band sie zusammen. Unbewusst hob sie die Arme und legte die rechte Hand auf die linke Schulter und die linke Hand auf die rechte Schulter. Die Hexe nickte anerkennend.
Sophie schloss die Augen und sah Wolken. Ohne zu wissen, woher, hatte sie ihre Namen parat: Zirrus, Zirrokumulus, Altostratus und Stratokumulus, Nimbostratus und Kumulus. Alle unterschiedlich und jeder Typus mit einzigartigen Merkmalen und Eigenschaften. Und plötzlich wusste sie, wie sie sie nutzen konnte, formen und beeinflussen und bewegen.
Bilder flackerten auf.
Standen hell leuchtend vor ihrem inneren Auge.
Sie sah eine sehr kleine Frau unter einem klaren, blauen Himmel stehen und eine Hand heben, und dann bildete sich direkt über ihr eine Wolke. Regen fiel auf ein ausgedörrtes Feld.
Das nächste Bild.
Ein großer, bärtiger Mann stand am Ufer eines Meeres und hob die Hand und ein kräftiger Wind teilte die Wogen.
Und das nächste.
Eine junge Frau stoppte mit einer einzigen Handbewegung einen tobenden Sturm, lief in eine windschiefe Hütte und holte ein Kind heraus. Einen Herzschlag später fraß der Sturm das Haus auf.
Sophie beobachtete die Szenen und lernte daraus.
Die Hexe von Endor berührte Sophies Wange. Sophie öffnete die Augen. Das Weiße darin war mit silbernen Pünktchen gesprenkelt. »Manche behaupten, dass die Magie des Feuers oder des Wassers und selbst die der Erde die stärkste von allen ist. Sie irren sich. Die Magie der Luft übertrifft sie alle. Luft kann Feuer löschen. Sie kann Wasser aufwühlen und in feine Nebel verwandeln und die Erde aufreißen. Aber die Luft kann das Feuer auch zum Leben erwecken, sie kann ein Boot über unbewegtes Wasser treiben und das Land formen. Luft kann eine Wunde säubern und sie kann einen Holzsplitter aus einer Fingerspitze ziehen. Luft kann töten.«
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