Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass sich hinter dem Klick-Klick, das sie zunächst für tropfendes Wasser gehalten hatte, etwas verbarg, das näher kam, langsam und unbeirrt. Sie drückte sich an die Stäbe und schaute den Flur hinunter. Ein Schatten näherte sich. Ob es wieder Dees gesichtslose Simulacra waren? Die würden sie nicht lange festhalten können.
Der Schatten, riesig und unförmig, trat aus der Dunkelheit und stand schließlich vor ihrer Zelle. Plötzlich war Perenelle froh um die Gitterstäbe, die sie von dem Furcht einflößenden Etwas trennten.
Was da die ganze Breite des Flurs ausfüllte, war ein Geschöpf, wie es auf der Erde seit einem Jahrtausend vor dem Bau der ersten Pyramide am Nil nicht mehr gesehen worden war. Es war eine Sphinx, ein gewaltiger Löwe mit Adlerflügeln und dem Kopf einer wunderschönen Frau. Die Sphinx lächelte und legte den Kopf schief und eine lange, gespaltene schwarze Zunge fuhr über die Lippen. Perenelle sah, dass ihre Pupillen schmal und waagerecht waren.
Das war keines von Dees Geschöpfen. Die Sphinx war eine der Töchter der Echidna, einer der hinterhältigsten Erstgewesenen, gemieden und gefürchtet von ihrer eigenen Rasse, selbst von den Dunklen Älteren. Perenelle fragte sich, wem genau Dee diente.
Die Sphinx drückte das schöne Gesicht gegen die Stäbe. Die lange Zunge tastete sich aus ihrem Mund, schmeckte die Luft und berührte fast Perenelles Lippen. »Muss ich dich daran erinnern, Perenelle Flamel«, fragte sie in der Sprache, die vor Jahrtausenden am Nil gesprochen wurde, »dass es zu den besonderen Fähigkeiten meiner Familie zählt, Aura-Energie aufzusaugen?« Sie schlug mit den gewaltigen Flügeln, die fast den gesamten Flur ausfüllten. »In meiner Gegenwart verfügst du über keinerlei magische Kräfte.«
Perenelle lief es eiskalt über den Rücken, als sie erkannte, wie klug Dee war. Sie war eine vollkommen machtlose Gefangene auf Alcatraz, und sie wusste, dass noch niemand die Flucht von dem berüchtigten Felsen überlebt hatte.
D ie Türglocke bimmelte, als Nicholas Flamel die Ladentür öffnete und dann zur Seite trat, um einer älteren, ziemlich gewöhnlich aussehenden Frau in grauer Bluse und grauem Rock den Vortritt zu lassen. Sie war klein und rundlich und das dauergewellte Haar schimmerte leicht bläulich. Nur die übergroße Brille mit den dunklen Gläsern, die einen Großteil ihres Gesichts verdeckte, unterschied sie von anderen Frauen in ihrem Alter. In der rechten Hand hielt sie einen zusammengeschobenen weißen Teleskopstock, an dem Sophie und Josh sofort erkannten, dass sie blind war.
Flamel räusperte sich. »Darf ich vorstellen...« Er hielt inne und schaute die Frau an. »Entschuldigen Sie, wie darf ich Sie nennen?«
»Nenn mich Dora, wie alle anderen auch.« Sie sprach Englisch mit einem deutlichen New Yorker Akzent. »Scathach?«, fragte sie plötzlich. »Scathach!« Dann ging es weiter in einer Sprache, die hauptsächlich aus Zischlauten zu bestehen schien... und die Sophie verstand, wie sie überrascht feststellte.
»Sie will wissen, warum Scatty sie in den vergangenen dreihundertzweiundsiebzig Jahren, acht Monaten und vier Tagen nicht besucht hat«, übersetzte sie für Josh. Sie hatte nur Augen für die alte Frau und sah nicht die Angst und den Neid, die kurz in der Miene ihres Bruders aufflackerten.
Die alte Dame bewegte sich schnell und mit großer Sicherheit in dem vollgestellten Raum, drehte den Kopf von rechts nach links, ohne Scatty je direkt anzusehen. Dann redete sie, anscheinend ohne Atem zu holen, weiter.
»Sie sagt Scatty, dass sie hätte sterben können, ohne dass es jemand gemerkt hätte. Oder traurig gewesen wäre. Erst im letzten Jahrhundert war sie schwer krank und keiner hat angerufen, keiner geschrieben...«
»Gran…«, begann Scatty.
»Hör mir auf mit dem Granny-Quatsch«, meinte Dora wieder auf Englisch. »Du hättest schreiben können, egal in welcher Sprache. Du hättest anrufen können...«
»Du hast doch gar kein Telefon!«
»Und was hast du gegen eine E-Mail oder ein Fax?«
»Hast du denn einen Computer oder ein Faxgerät, Gran?«
»Nein. Wozu sollte ich so etwas brauchen?« Dora machte eine schnelle Bewegung mit der Hand und der weiße Stock entfaltete sich mit einem Ruck zu seiner vollen Länge. Sie tippte auf einen einfachen, viereckigen Spiegel. »Hast du so einen?«
»Ja, Gran«, antwortete Scatty kläglich. Sie war knallrot geworden vor Verlegenheit.
»Dann hattest du also nicht einmal Zeit, in einen Spiegel zu gucken und mit mir zu reden? Hast du so viel zu tun? Ich musste von deinem Bruder hören, wie es dir geht. Und wann hast du das letzte Mal mit deiner Mutter gesprochen?«
Scathach drehte sich zu den Zwillingen um. »Das ist meine Großmutter, die legendäre Hexe von Endor. Gran, das sind Sophie und Josh. Nicholas Flamel kennst du ja bereits.«
»Ja, ein sehr netter Mensch.« Die Hexe drehte unablässig den Kopf hin und her und ihre Nasenflügel bebten. »Zwillinge«, sagte sie schließlich.
Sophie und Josh schauten sich an. Woher wusste sie das? Sie waren keine eineiigen Zwillinge… Hatte Nicholas es ihr erzählt?
Irgendetwas an der Art und Weise, wie die Frau ständig den Kopf hin- und herbewegte, weckte Joshs Neugier. Er versuchte, ihrer Blickrichtung zu folgen... Und dann merkte er, weshalb ihr Kopf ununterbrochen in Bewegung war: Sie musste sie durch die Spiegel sehen. Automatisch drückte er kurz die Hand seiner Schwester und zeigte auf den nächsten Spiegel. Sie warf einen Blick darauf, dann auf die alte Dame und wieder zurück zum Spiegel. Dann nickte sie ihrem Bruder zu. Er hatte recht.
Dora baute sich vor Scathach auf, das Gesicht einem hohen Spiegel zugewandt, der rechts von ihr stand. »Du hast abgenommen. Isst du auch ordentlich?«
»Gran, so sehe ich schon seit zweieinhalbtausend Jahren aus!«
»Willst du damit andeuten, dass ich langsam blind werde, he?«, fragte die Alte und brach dann in ein erstaunlich tiefes Lachen aus. »Komm, nimm deine alte Großmutter mal in die Arme.«
Scathach drückte sie vorsichtig und küsste sie auf die Wange. »Schön, dich wiederzusehen, Gran. Du siehst gut aus.«
»Ich sehe alt aus. Sehe ich alt aus?«
Scatty lächelte. »Keinen Tag älter als zehntausend.«
Die Hexe kniff Scatty in die Wange. »Die letzte Person, die sich über mich lustig gemacht hat, war ein Steuerinspektor. Ich habe ihn in einen Briefbeschwerer hineingezaubert. Das Ding muss hier noch irgendwo rumstehen.«
Flamel hüstelte diskret. »Madame Endor...«
»Nenn mich Dora«, schnaubte die alte Frau.
»Dora. Weißt du, was heute Morgen in Hekates Schattenreich passiert ist?« Er war der Hexe noch nie begegnet, kannte sie nur vom Hörensagen, aber er wusste, dass sie mit äußerster Vorsicht zu behandeln war. Sie war die legendäre Erstgewesene, die Danu Talis Jahrhunderte bevor die Insel im Wasser versank, verlassen hatte, um bei den Humani zu leben und sie zu unterrichten. Es hieß, dass sie im alten Sumerien das erste Humani-Alphabet erfunden hatte.
»Holt mir einen Stuhl«, sagte Dora zu niemand Bestimmtem. Sophie brachte den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, und Scatty rückte ihn ihrer Großmutter zurecht. Die alte Dame beugte sich vor, beide Hände auf den weißen Stock gestützt. »Ich weiß, was geschehen ist. Sicherlich hat jede und jeder Erstgewesene auf diesem Kontinent ihren Tod gespürt.« Sie sah in die ihr zugewandten überraschten Mienen. »Wusstet ihr das nicht?« Sie drehte den Kopf so, dass sie in einen Spiegel schauen konnte, der direkt gegenüber von Scatty hing. »Hekate ist tot und ihr Schattenreich ist untergegangen. Wie ich gehört habe, sind eine Erstgewesene, eine aus der nächsten Generation und ein unsterblicher Mensch verantwortlich für ihren Tod. Hekate muss gerächt werden. Nicht jetzt und vielleicht auch noch nicht in nächster Zukunft. Aber sie war ein Familienmitglied und ich bin es ihr schuldig. Übernimm du es.«
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