Nathans Augen funkelten immer noch hart wie Stahl, doch Paolo war ein Anblick des Jammers. »Was auch immer der gute Mann als Henkersmahlzeit bekommen hat, ich werde etwas anderes bestellen«, verkündete Nathan.
»Der gute Mann«, auf den sich Nathans Kommentar bezog, war ein Skelett, das in der gegenüberliegenden Ecke ihrer Zelle in sich zusammengesunken an der Wand lehnte.
Paolo rollte die Augen, und sein Magen gab ein eigenartiges Geräusch von sich. Eine volle Minute später murmelte er missmutig: »Woher wollt Ihr wissen, dass dieser Knochenhaufen zu Lebzeiten ein Mann war?«
»War das etwa eine Frage?«, rief Nathan verblüfft aus. »Wie schön! Wir reden miteinander! Sagtest du vorhin nicht so etwas wie: Unsere letzten Worte wären bereits gesprochen? Aber du hast ganz recht, vielleicht war unser Mitgefangener auch eine Dame. Das ändert die Sache natürlich grundlegend.« Nathan richtete sich ein Stück auf, glättete sein zerzaustes Haar und zwinkerte dem Skelett lasziv zu. »Na, heute Abend schon was vor?«
Paolo stieß einen verzweifelten Seufzer aus.
Aus dem Dorf unterhalb der Festung drang der dumpfe Klang von Musik an ihre Ohren, und Nathan begann leise mitzusummen. Da kam ihm eine Idee, und er rappelte sich mühsam hoch. »Wie dem auch sei …«
»Was?«, fragte Paolo.
»Wie wär’s mit einem kleinen Tänzchen?«
Paolo stieß ein Knurren aus, das diesmal nicht aus seinem Magen kam. »Ihr seid ja so unglaublich komisch«, schnaubte er und sank dann, wenn das überhaupt möglich war, noch tiefer in sich zusammen.
»Tut mir leid, Paolo, aber um ehrlich zu sein: Ich habe gar nicht mit dir gesprochen, sondern mit meiner bezaubernden neuen Freundin hier, Esmeralda.« Er streckte dem Skelett eine Hand entgegen. »Esmeralda, könnte ich Euch dafür begeistern, ein paar Takte Walzer mit mir zu tanzen? Oder Polka? Es darf auch etwas Barockes sein, wenn Ihr wünscht. Ich verspreche auch hoch und heilig, nicht auf Eure zarten Knochen zu treten.«
»Haltet endlich den Mund, Nathan!«, explodierte Paolo. »Ich habe es satt mit Euch! Ich bin müde, ich habe seit drei Tagen nichts gegessen und werde wahrscheinlich hier verhungern oder zu Tode gefoltert werden oder bei lebendigem Leib zerstückelt, und alles, was Euch dazu einfällt, ist, dümmliche Witze zu reißen!«
»Nichts gegessen, mein Lieber? Deine Erinnerung hat dir wohl einen kleinen Streich gespielt: Was ist mit den drei köstlichen Kakerlaken von heute Morgen? Allein die Konsistenz – eine Offenbarung! Und was das Witzereißen angeht – es ist unsere heilige Pflicht. Humor ist das, was uns von den Tieren unterscheidet.«
»Haltet Euer Maul!«, brüllte Paolo. »Oder ich vergesse mich!« Außer sich vor Wut griff er nach einem Bündel Stroh und warf es nach Nathan.
Nathan beugte sich zu dem Skelett hinunter und blickte um Vergebung heischend in die leeren Augenhöhlen. »Ich hoffe, Ihr akzeptiert meine aufrichtige Entschuldigung wegen des Betragens meines Freundes«, flüsterte er in vertraulichem Ton. »Italiener, müsst Ihr wissen. Ein sehr emotionales Volk.«
Da fiel sein Blick auf ein Stück Stoff neben seinem Stiefel. Er hob es auf und betrachtete es neugierig. Ein Markenname war hineingestickt. »Marks and Spencer«, las er halblaut vor und rieb den Stoff zwischen den Fingern. »Polyester. Zweifellos zwanzigstes Jahrhundert.« Da kam ihm ein furchtbarer Gedanke: »Miriam und Alan Djones!«
»Was habt Ihr da?«, fragte Paolo und hob den Kopf.
»Nichts«, erwiderte Nathan möglichst beiläufig, schob den Stofffetzen unter sein Wams und suchte verstohlen nach weiteren Hinweisen auf das Schicksal ihrer Vorgänger.
Da ertönte das metallische Klirren eines Schlüsselbundes. Eine Tür wurde entriegelt, und Paolo setzte sich zitternd auf, unsicher, was sie nun erwartete.
Schwere Schritte näherten sich, der Schein einer Fackel tanzte zuckend über die Gewölbedecke jenseits der Gitterstäbe, dann trat die schlanke Gestalt von Mina Schlitz ins Blickfeld, begleitet von einem Wächter, der die Fackel trug.
Vor der Zelle blieb sie stehen und starrte finster auf die beiden hinab. In der einen Hand hielt sie eine Zinnschale, mit der anderen hob sie den Deckel hoch und präsentierte den Gefangenen die darin befindlichen Köstlichkeiten: kalter Braten, frisches Brot und ein ganzer Berg Obst.
»Essen? Ihr habt uns etwas zu essen gebracht?«, stammelte Paolo ungläubig und kam stolpernd auf die Beine.
Mina schloss den Deckel, stellte die Schale auf den Boden und schob sie demonstrativ mit dem Stiefel beiseite. Dann nahm sie ihre rot gemusterte Schlange aus dem Gürtelkäfig und wickelte sie um ihr Handgelenk. »Prinz Zeldt ist neugierig, ob ihr schon hungrig genug seid, einen Handel einzugehen.«
»Einen Handel? Selbstverständlich!«, rief Paolo aufgeregt und umklammerte die Gitterstäbe. »Wir gehen jeden Handel ein. Was sollen wir tun?«
»Mein Freund hier leidet an Dehydrierung. Seine Urteilskraft ist beeinträchtigt«, warf Nathan hastig ein. »Wir verhandeln nicht mit dem Feind.«
»Tatsächlich?«, säuselte Mina. »Wie ungeschickt. Euch bleiben zwei Möglichkeiten: ein langsamer, grausamer Tod oder eine bedeutende, ruhmreiche Karriere an der Seite der Schöpfer der neuen Weltgeschichte.«
»Bedeutende, ruhmreiche Karriere!«, rief Paolo begeistert. »Unbedingt! Wo sollen wir unterschreiben?«
Nathan zog ihn von den Gitterstäben weg und schob ihn an die gegenüberliegende Wand. »Ich warne dich. Du bist es, der ab jetzt das Maul halten wird.«
Er wandte sich an Mina, das Gesicht mit einem Mal todernst, die funkelnden Augen hart wie Diamant.
»Die Welt hat bereits eine Geschichte, Miss Schlitz«, erklärte er mit durchdringender Stimme. »Und die war schlimm genug. Wir wollen die Dinge nicht unnötig verkomplizieren.« Sein Blick wurde noch härter. »Es gibt nichts zu verhandeln.«
Ein Lächeln umspielte Minas Lippen. »Eigenartig, die letzten Insassen dieser Zelle sagten exakt dasselbe«, erwiderte sie amüsiert und ließ ihre Stimme dann zu einem Flüstern werden. »Es heißt, ihr Ableben wäre ganz wunderbar grauenvoll gewesen.« Sie schob die Zinnschale noch ein Stückchen weiter von den Gitterstäben weg. »Noch habt ihr Bedenkzeit«, sagte sie mit einem Achselzucken, nickte der Wache kurz zu, und gemeinsam wandten sie sich zum Gehen.
»Doch, wenn mir die Bemerkung gestattet ist, Miss Schlitz …«, begann Nathan.
Mina blieb stehen und blickte sich hoffnungsvoll um.
»Rot steht Euch wirklich überhaupt nicht«, beendete er den Satz. »Man möchte meinen, es würde ganz wunderbar mit dieser entzückenden Viper an Eurem Arm harmonieren, doch in Wahrheit passen die Farbtöne nicht recht zueinander: Euer Kleid geht ins Magenta, meine Teuerste, wohingegen die Zeichnung Eures kleinen Haustiers eher als zinnoberrot zu bezeichnen wäre. Solche farblichen Unstimmigkeiten können zwar einen interessanten Kontrast bilden, doch in Eurem Fall würde ich sagen, sieht es eher vulgär aus.«
Minas Gesicht wurde violett vor Zorn. Schnaubend drehte sie sich um und stolzierte mit langen Schritten davon. Es folgte das Knallen einer Tür und das Knirschen eines Riegels, dann herrschte eisige Stille.
»Da fühlt man sich doch gleich viel besser, irgendwie lebendiger, findest du nicht?«, fragte Nathan über die Schulter, doch Paolo stand nur mit offenem Mund da und bebte vor Verzweiflung.
20

DIE RUSSISCHE DELEGATION
Da kommt jemand«, flüsterte Jake und klopfte Topaz auf die Schulter.
Topaz brauchte einen Moment, um aus dem Tiefschlaf zu erwachen. Schließlich riss sie die Augen auf, schlug die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Charlie wurde ebenfalls wach und setzte sich auf. Alle trugen noch die Kleidung vom Vortag.
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