»Denkst du, das alles hier wäre nur ein Spiel?«, tobte Nathan. »Wir sind auf dem Weg zu einem Einsatz. Es stehen Menschenleben auf dem Spiel. Nicht nur Menschenleben, ganze Zivilisationen!«, fügte er mit extra viel Pathos hinzu.
»Ich wollte nur …«
»Du wolltest nur was?«
Nathan war nicht wiederzuerkennen. Er hatte nichts mehr von dem gut gelaunten Charmeur, den Jake bei seiner Ankunft kennengelernt hatte.
»Ich wollte nur meine Eltern finden.«
»Das ist nicht deine Aufgabe«, erwiderte Nathan. »Wir müssen ihn zurück zur Insel bringen«, sagte er nachdrücklich zu den anderen.
» Ce n’est pas possible . Wir sind kaum noch zwanzig Seemeilen vom Horizontpunkt entfernt.« Topaz deutete auf den Konstantor, der über dem Esstisch hing. »Wir verlieren einen ganzen Tag.«
»Nun, daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern. Er würde nur alles vermasseln. Charlie, wende das Schiff!«
»Topaz hat recht. Wir verlieren einen ganzen Tag«, entgegnete Charlie und ging zur Kochstelle zurück, wo er drei Pfannen gleichzeitig auf dem Feuer hatte. Mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk wendete er die in einer davon schmorenden Champignons.
Wieder schlug Nathan zornig auf den Tisch. »Ein Frischling wie er kann noch keine so weite Reise machen! Es geht hier nicht um einen kleinen Spaziergang ins Jahr 1805, sondern um einen Sprung über mehr als drei Jahrhunderte hinweg. Wenn er explodiert, sind wir alle geliefert!«
Jake blickte Nathan entsetzt an. Hatte er tatsächlich soeben »explodiert« gesagt?
»Und außerdem, seht ihn euch doch an«, wetterte Nathan weiter. »Er trägt eine Schuluniform. Könnte etwas auffällig sein, meint ihr nicht?«
»Ach, komm schon. Du hast genug modischen Schnickschnack in deiner Kajüte, um eine ganze Armee damit auszustaffieren«, konterte Topaz.
Doch Nathan blieb hart. »Dann setzen wir ihn eben im Ruderboot aus. Er wird den Weg zurück schon finden.«
»Rede nicht solchen Unsinn!«, widersprach Topaz. »Wie soll er das allein denn schaffen?«
»Das ist wohl kaum unser Problem.«
»Nathan, er ist ein Diamant. Oberste Kategorie, wie Jupitus Cole selbst gesagt hat. Er wird nicht explodieren. Außerdem bin ich die Anführerin dieser Gruppe und treffe die Entscheidungen.« Mit diesen Worten drehte sie sich zu Jake um und sagte: »Du kannst an Bord der Campana bleiben. Aber wenn wir in Venedig sind, hältst du dich im Hintergrund, verstanden?«
Jake nickte und blickte den dreien ernst ins Gesicht. »Es tut mir leid, dass ich mich an Bord geschmuggelt habe. Es war ein Fehler. Aber ich verspreche, dass ich von jetzt an alles tun werde, um euch zu helfen.«
Topaz’ strenger Gesichtsausdruck wurde etwas milder, und Nathan ließ sich achselzuckend in seinen Stuhl fallen. »Oberste Kategorie?«, murmelte er. »Wer hätte das gedacht …«
»Was genau bedeutet … ›explodieren‹?«, fragte Jake kleinlaut.
»Solange sich dein Körper noch nicht ausreichend an hohe Konzentrationen von Atomium angepasst hat, was eine ganze Weile dauern kann«, erklärte Charlie und blickte von seinen Pfannen auf, »kannst du im Flux Temporum hängen bleiben. Deine Atome zerfallen in Millionen kleinster Partikel – du gehst hoch wie eine Wasserstoffbombe und nimmst uns alle mit ins Nirwana.« Er zog eine Auflaufform aus dem Rohr und kostete den Inhalt. »Ein Gedicht, dieses Zucchini-Soufflé. Ich glaube, dieses Mal habe ich mich glatt selbst übertroffen.«
Jake hatte zwar keinen sonderlichen Appetit, aber mit dem Menü, das Charlie da mal eben nebenbei gezaubert hatte, hätte er locker jeden Kochwettbewerb gewonnen. Es bestand aus Kirschtomaten-Bruschetta, gefüllten Zwergpaprika mit marinierten Champignons und einer Himbeertorte mit Sahnebaiser als Nachtisch. Wie sich herausstellte, war Charlie strikter Vegetarier und hatte das Kochen am kaiserlichen Hof Napoleons gelernt.
Nachdem der Tisch abgeräumt war, stellte Topaz ein kleines Kästchen auf den Tisch, und es trat Totenstille ein. Sie öffnete den Deckel, nahm die Phiole mit dem Atomium und die Horizontschale heraus. Die letzte halbe Stunde hatte Jake damit verbracht, sich vorzustellen, wie er explodierte, und sich gefragt, wie blutig ein solcher Tod wohl aussehen würde.
Das Atomium schmeckte widerlich, wie ausgelaufene Batterieflüssigkeit, dachte Jake, und seine Wirkung setzte schneller und heftiger ein als beim letzten Mal – er hatte es kaum geschluckt, da kippte Jake auch schon rückwärts vom Stuhl. Er kam erst wieder zu Bewusstsein, als er Charlies piksende Finger zwischen den Rippen spürte.
»Wach auf. Du kannst jetzt nicht schlafen. Wach auf.«
Jake versuchte, seinen Blick fest auf die Gesichter über ihm zu heften.
»Wach endlich auf! Jetzt zu schlafen ist verdammt gefährlich.«
»Sind wir schon da? In Venedig?«, fragte Jake und verlor erneut das Bewusstsein.
Nathan nickte Charlie kurz zu, der Jake daraufhin ein Glas mit eiskaltem Wasser ins Gesicht kippte.
Mit einem lauten Keuchen fuhr Jake hoch. »Ich will nicht explodieren!«, schrie er. Zwei Minuten später war er wieder weg, und so ging es noch eine halbe Stunde weiter, bis Topaz schließlich vom Deck herunterrief: »Noch fünf Minuten bis zum Horizontpunkt!«
Jakes Befinden änderte sich schlagartig. Mit plötzlich aufwallender Energie schnellte er vom Boden hoch, rief »Wir fliegen, wir fliegen!« und tanzte im Kreuzschritt durch die Kombüse.
Nathan wandte, als schämte er sich für ihn, den Blick ab, und Mr Drake folgte seinem Beispiel.
»Ich muss mit Topaz sprechen!«, verkündete Jake und stürmte an Deck, wo er sie wie der Filmheld, als der er sich in diesem Augenblick fühlte, leidenschaftlich in die Arme schloss.
Topaz schnappte verblüfft nach Luft und lächelte verlegen. Inzwischen war auch Charlie an Deck gekommen und schüttelte nur verdutzt den Kopf.
Jake wollte Topaz gerade küssen – da hatten sie den Horizontpunkt erreicht, und wie beim ersten Mal hatte er das Gefühl, wie eine Rakete in die Höhe zu schießen. Sein Alter Ego – oder was auch immer es war – raste auf den Rand der Erdatmosphäre zu, dorthin, wo das zarte Blau zu tiefem Schwarz wurde, und unter sich sah Jake das Mittelmeer, wie es sich an Frankreich, Spanien und den italienischen Stiefel schmiegte, schräg darüber, unter einer gigantischen Nebelbank, lagen die Britischen Inseln, genau wie im Wetterbericht im Fernsehen. Dann hatte seine Flugbahn den Zenit überschritten, und er stürzte wieder aufs Wasser zu. Jake sah sich selbst auf dem Deck der Campana , wie er Topaz umklammert hielt, dann brach er auf dem Deck der alten Galeere zusammen, schüttelte und krümmte sich vor Lachen.
Charlie warf einen Blick auf seine Uhr und tippte lächelnd auf die Datumsanzeige. »Wir sind da: 15. Juli 1506.«
Es war stockfinstere Nacht und ziemlich heiß. Das Meer war spiegelglatt und am Firmament glitzerten Myriaden von Sternen. Jakes Kopf dröhnte wie nie zuvor in seinem Leben, und ihm wurde die Peinlichkeit seiner Situation bewusst: Er wollte lieber sterben als Topaz in die Augen sehen. Nach kurzem Überlegen entschied er sich gegen beide Optionen und zog stattdessen seinen Blazer aus, um wenigstens die Hitze ein wenig besser ertragen zu können. Vorsichtig setzte er sich auf die Holzplanken und blickte achtern auf die sich zurückziehende See.
Es war pechschwarze Nacht, alle auf Mont Saint-Michel schliefen tief und fest. Das gelegentliche Flackern einer Kerzenflamme war die einzige Bewegung in der absoluten Stille auf den verlassenen Gängen und Treppenhäusern des Schlosses. Auch die Seevögel schliefen stumm in ihren Nestern zwischen den dunklen Granittürmen und -rondellen.
Eine Gestalt in einer dunkelblauen Kutte trat mit einem Kerzenleuchter in der Hand aus dem Zwielicht eines Bogengangs und schlich auf Zehenspitzen zur Eingangstür des Kommunikationsraums. Die Gestalt – es war unmöglich zu sagen, ob Mann oder Frau – hielt kurz inne und sah sich um, dann öffnete sie vorsichtig die quietschende Tür und schlüpfte hinein.
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