»Na, schon gut eingelebt?«, fragte Nathan, der plötzlich an Deck auftauchte und gemächlich seinen Umhang zuknöpfte.
Jake machte unwillkürlich einen Schritt nach hinten. Nathan trug jetzt vollkommen andere Kleidung als noch vorhin: ein eng sitzendes Jackett und eine ebensolche Kniehose aus dunkelblauem Wildleder, dazu hohe, wunderbar weich aussehende Lederstiefel. An seiner Hüfte hing ein glänzender Degen, und um den Kopf hatte er sich ein Tuch gebunden, das ihn ein bisschen wie einen Piraten aussehen ließ.
»Ja, ganz gut«, antwortete Jake. »Das willst du für die Reise anziehen?«
»Die Mode im Italien des frühen sechzehnten Jahrhunderts ist eine komplizierte Angelegenheit«, erwiderte Nathan und steckte sich einen kleinen Diamanten ins Ohr, »aber ich würde sagen, ich habe die Balance ganz gut hingekriegt. Findest du nicht?«
»Sieht sehr authentisch aus«, stimmte Jake zu, auch wenn er keine Ahnung hatte, was für eine Art von Balance Nathan gemeint hatte. »Und ihr fahrt mit dem Schiff hier?«, schob er schnell hinterher, um Nathan davon abzuhalten, ihn zu fragen, was genau er hier eigentlich machte.
»Der alte Holzeimer mag äußerlich nicht viel hermachen, aber er hat uns noch nie im Stich gelassen«, antwortete Nathan und gab dem Mast einen kräftigen Klaps. »Der Legende nach hat Christoph Columbus sich auf diesem Schiff selbst das Segeln beigebracht.« Er sprang auf den Steg. »Jetzt muss ich den Rest meiner Garderobe zusammenstellen. Das Geheimnis eines bestechenden Aussehens – überall und zu jeder Gelegenheit – ist nämlich Folgendes: Variationsmöglichkeiten!« Mit diesen Worten schritt er zurück ins Schloss.
Nachdem Nathan verschwunden war, atmete Jake noch einmal kurz durch, tat so, als wolle er sich das Schiff nur ansehen, überquerte die Laufplanke und ging an Deck. Nur für den Fall, dass jemand ihn beobachtete, verbrachte er extra viel Zeit damit, die Segel zu begutachten, den Mast und das Steuerrad, bevor er sich ein letztes Mal verstohlen umsah und über die knarrenden Stufen des nächstbesten Niedergangs unter Deck verschwand.
Unten angekommen, begann er sofort mit der Suche nach einem geeigneten Versteck. Es gab eine kleine Kombüse mit zwei Ausgängen, von denen der eine zu einer gemütlichen Kabine im Bug führte, in der Topaz’ Reisekoffer stand, und der andere zu einer winzigen Kajüte mit einer einfachen Holzpritsche darin, auf der sich Nathans Schrankkoffer stapelten.
In diesem Moment hörte Jake ein dumpfes Geräusch oben an Deck. Es wurde weitere Ladung an Bord gebracht. Dann erklang erneut Nathans Stimme: »Das wäre alles. Bringt die Koffer einfach in meine Kajüte. Ich werde die Sachen selbst auspacken. Aber Vorsicht, der Mantel in dieser Kiste da hat einmal Karl dem Großen gehört!«
Jake hörte Schritte unter Deck kommen und dann einen Aufschrei, als einer der Träger ein schweres Gepäckstück fallen ließ, gefolgt von einem gemurmelten »Gott sei Dank hat der amerikanische Lackaffe das nicht gesehen«.
Jake konnte sich gerade noch hinter der Tür verstecken, als die beiden Träger hereinkamen und den Rest von Nathans Schrankkoffern in die Kajüte schleppten.
»Wozu braucht dieser halbwüchsige Geck das alles überhaupt?«, fragte der andere, dann gingen sie zurück an Deck, und Jake hörte, wie sie das Schiff verließen.
»Ich kann das unmöglich tun«, murmelte Jake und verließ Nathans Kajüte. Er hatte kaum den Niedergang erreicht, da kehrte er wieder um, zog die Ausweise seiner Eltern aus der Brusttasche und betrachtete die Passbilder. »Und wenn es den anderen nicht wichtig genug ist, sie zu retten …?«, fragte er sich, und seine Entschlossenheit war wieder da. Genau in diesem Moment entdeckte er eine Luke im Boden. Jake öffnete sie und sah eine Leiter, die hinunter in den schummrigen Schiffsbauch führte.
Wie die Escape war auch die Campana mit einem Dampfantrieb ausgestattet worden, und Jake sah im düsteren Zwielicht die Umrisse einer Maschine, die ihn entfernt an einen alten Kohleofen erinnerte. Zwischen Stapeln von Brennholz und Proviantkisten gab es jede Menge dunkler Ecken – es war das perfekte Versteck! Mucksmäuschenstill kletterte Jake die Leiter hinunter und schloss die Luke hinter sich. Mit ausgestreckten Armen tastete er sich durch die nachtschwarze Finsternis vor zum Bug und kauerte sich zwischen ein paar Kisten.
Da fiel ihm ein, dass er immer noch seine »uncharmante« Schuluniform trug, und ein gewisses Gefühl des Bedauerns überkam ihn, weil er den Termin mit Signore Gondolfino verpassen würde. Mehr denn je sehnte er sich danach, Teil dieser eleganten, magischen Welt zu sein, in die er hineingeraten war.
Ein paar Minuten später hörte Jake die gedämpften Stimmen von Menschen, die sich am Kai versammelten, dann spürte er ein leichtes Schaukeln, als die Agenten an Bord gingen. Nathan hielt eine kurze Stegreifrede, die hauptsächlich aus Formulierungen wie »Ruhm und Ehre« und »zum Wohl der Menschheit« zu bestehen schien, dann gab Topaz den Befehl zum Segelsetzen, und mit einem letzten Ruck glitt die Campana vom Steg weg.
Jake wurde mulmig zumute: Er musste die anderen wissen lassen, dass er an Bord war, und das am besten sofort.
Aber er rührte sich nicht von der Stelle. Stattdessen schloss er in der undurchdringlichen Dunkelheit des Schiffsbauchs die Augen und stellte sich seine Eltern vor, wie sie in irgendeinem Kerker saßen und halb verhungert auf ihren Folterknecht warteten. Er dachte an seinen Bruder Philip, wie er ihn jedes Mal, wenn Jake traurig war, aufgemuntert hatte. Während eines verregneten Campingurlaubs in Südengland war er sogar einmal die ganze Nacht lang wach geblieben, um Jake vor dem Bösen Riesen zu beschützen, der seiner Meinung nach im Wald lauerte. Nicht alle älteren Brüder waren so nett zu ihren jüngeren Geschwistern, aber Philip war eben der beste Bruder, den man sich nur wünschen konnte. Gewesen , dachte Jake düster.
Mit jeder Seemeile, die die Campana zwischen sich und die Insel brachte, rumorte es stärker in Jakes Bauch, und er konnte förmlich hören, wie seine Tante Rose durchs Schloss lief und sich fragte: »Wohin zum Teufel ist Jake bloß verschwunden? Wird wohl eingenickt sein …«
Etwa eine Stunde später waren ihm sämtliche Gliedmaßen eingeschlafen, und Jake fühlte sich mehr als nur ein bisschen seekrank. Aus der Kombüse hörte er die Stimmen von Nathan, Topaz und Charlie Chieverley. Jemand kochte gerade etwas zu essen, und Jake stiegen so verführerische Düfte in die Nase, dass sein Magen laut zu knurren begann.
Er verlagerte sein Gewicht etwas, um das Taubheitsgefühl in seinen Beinen zu bekämpfen, da sah er, wie zwei kleine gelbe Augen ihn aus der Finsternis anstarrten. Jake erschrak so heftig, dass er einen lauten Schrei ausstieß und einen Satz nach hinten machte, was einen Stapel Kisten zum Einsturz brachte. Keuchend spähte er in die Düsternis des Schiffsrumpfs, bis er die gelben Augen wieder entdeckte, wie sie gerade in einer noch dunkleren Ecke des Frachtraums verschwanden.
»Ratten! Ich hasse Ratten!«, fluchte Jake.
Da fiel ihm auf, dass die Stimmen der anderen verstummt waren.
Schon öffnete sich knarrend die Luke über ihm, und Nathan kam mit gezogenem Degen die Leiter heruntergeklettert. »Gebt Euch zu erkennen, oder tretet Eurem Schöpfer gegenüber!«, rief er breitbeinig dastehend.
Jake kam mühsam auf die Beine und hob die Hände über den Kopf.
»Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«, fragte Nathan wütend und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Jake stand in der Kombüse und blickte nervös zwischen drei ihn unfreundlich anstarrenden Augenpaaren hin und her (insgesamt waren es vier, wenn man Mr Drake mitzählte). Topaz und Charlie hatten, wie Nathan, Garderobe aus dem sechzehnten Jahrhundert angelegt. Topaz sah umwerfend aus in dem cremefarbenen Seidengewand mit dem rechteckigen Kragenausschnitt und den Trompetenärmeln. Charlie, der, egal was er anzog, immer aussah wie ein etwas verrückter Wissenschaftler, trug ein Wams und eine Strumpfhose mit kleinen roten Karos darauf, dazu ein Filzbarett mit angesteckter Feder.
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