Eine der Frauen brachte ihr erneut etwas zu essen und setz-te sich eine Weile neben sie, schweigend, als wollte sie ihr durch ihre Gegenwart etwas Trost spenden. Kurz darauf kamen auch drei der Männer herein, aber sie blieben im Höhleneingang stehen und musterten sie und Mo nur von ferne. Sie tuschelten miteinander, während sie zu ihnen herübersahen.
»Sind wir willkommen hier?«, fragte Resa die Nessel bei einem ihrer schweigsamen Besuche. »Ich glaube, sie reden über uns.«
»Lass sie reden!«, antwortete die Alte nur. »Ich habe ihnen erzählt, dass ihr von Wegelagerern überfallen wurdet, aber natürlich reicht ihnen das nicht. Eine schöne Frau, ein Mann mit einer seltsamen Wunde, wo kommen sie her? Was ist geschehen? Sie sind neugierig. Und wenn du klug bist, lässt du nicht allzu viele die Narbe an seinem Arm sehen.«
»Warum?« Resa sah sie verständnislos an.
Die Alte musterte sie, als wollte sie ihr ins Herz sehen. »Nun, wenn du das wirklich nicht weißt, dann bleibt es auch besser so«, sagte sie schließlich. »Und lass sie reden. Was sollen sie schon sonst groß tun? Einige kommen her, um auf den Tod zu warten, andere, dass das Leben endlich beginnt, und wieder andere leben nur noch von den Geschichten, die man ihnen erzählt. Seiltänzer, Feuerspucker, Bauern, Fürsten -sie sind alle gleich, Fleisch und Blut und ein Herz, das weiß, dass es irgendwann aufhört zu schlagen.«
Feuerspucker. Resas Herz tat einen Satz, als die Nessel das Wort aussprach. Natürlich. Warum hatte sie daran nicht eher gedacht? »Bitte!«, sagte sie, als die alte Frau schon wieder im Eingang der Höhle stand. »Du kennst doch sicher viele Spielleute. Ist einer unter ihnen, der sich Staubfinger nennt?«
Die Nessel drehte sich so langsam um, als müsste sie erst entscheiden, ob sie antworten wollte. »Staubfinger?«, wiederholte sie schließlich mürrisch. »Du wirst kaum einen Spielmann finden, der ihn nicht kennt, aber seit Jahren hat ihn keiner gesehen. Obwohl es Gerüchte gibt, dass er zurück ist.«
Ja, er ist zurück, dachte Resa, und er wird mir helfen, so wie ich ihm geholfen habe, in der anderen Welt.
»Ich muss ihm eine Nachricht schicken!« Sie hörte selbst, wie verzweifelt ihre Stimme klang. »Bitte.«
Die Nessel musterte sie ohne eine Regung auf dem braunen Gesicht. »Wolkentänzer ist hier«, sagte sie schließlich. »Sein Bein schmerzt ihn wieder, aber sobald es besser ist, zieht er weiter. Frag ihn, ob er sich umhört für dich und deine Nachricht mitnimmt.« Dann war sie fort. Wolkentänzer.
Draußen wurde es wieder dunkel, und mit der Dunkelheit kamen Männer, Kinder und Frauen in die Höhle und legten sich zum Schlafen auf das Laub - abseits von ihr, als wäre Mos Reglosigkeit etwas Ansteckendes. Eine der Frauen brachte ihr eine Fackel. Sie malte zuckende Schatten an die Felswände, Schatten, die Grimassen schnitten und mit schwarzen Fingern über Mos blasses Gesicht strichen. Die Weißen Frauen hielt das Feuer nicht fern, auch wenn es hieß, dass sie es begehrten und zugleich fürchteten. Immer wieder erschienen sie in der Höhle, wie bleiche Spiegelbilder, die Gesichter aus Nebel geformt. Sie kamen näher und verschwanden wieder, vermutlich vertrieb sie der bitterherbe Geruch der Blätter, die die Nessel um Mos Lager gelegt hatte. »Es hält sie fern«, hatte die alte Frau gesagt, »aber aufpassen musst du trotzdem.«
Eins der Kinder weinte im Schlaf. Seine Mutter strich ihm tröstend übers Haar - und Resa musste an Meggie denken. War sie allein oder war der Junge noch bei ihr? War sie glücklich, traurig, krank, gesund? Wie oft hatte sie sich diese Fragen schon gestellt, als hoffte sie, irgendwann von irgendwoher eine Antwort zu erhalten.
Eine Frau brachte ihr frisches Wasser. Dankbar lächelte sie ihr zu - und fragte sie nach Wolkentänzer. »Der schläft lieber unter freiem Himmel«, sagte sie und wies nach draußen. Resa hatte lange keine Weiße Frau mehr gesehen, doch trotzdem weckte sie eine der Frauen, die ihr angeboten hatten, sie in der Nacht abzulösen. Dann stieg sie über die Schlafenden und ging nach draußen.
Der Mond schien heller als jede Fackel durch das dichte Blätterdach. Ein paar Männer saßen um ein Feuer herum. Zögernd ging Resa auf sie zu, in dem Kleid, das so gar nicht hierher passte, das selbst für eine Spielfrau zu hoch über den Knöcheln endete und dazu noch zerrissen war.
Die Männer starrten sie an, misstrauisch und neugierig zugleich.
»Ist einer von euch Wolkentänzer?«
Ein kleiner, hagerer Mann, zahnlos und vermutlich nicht halb so alt, wie er aussah, stieß dem Spielmann, der neben ihm saß, den Ellbogen in die Seite.
»Wozu fragst du?« Das Gesicht war freundlich, aber der Blick wachsam.
»Die Nessel sagt, dass er vielleicht eine Nachricht für mich überbringen würde.«
»Eine Nachricht? An wen?« Er streckte sein linkes Bein aus, rieb sich das Knie, als ob es ihn schmerzte.
»Er ist ein Feuerspucker. Staubfinger ist sein Name. Sein Gesicht.«
Wolkentänzer fuhr sich mit dem Finger über die Wange. ». drei Narben, ich weiß. Was willst du von ihm?«
»Ich möchte, dass du ihm das hier bringst!« Resa kniete sich neben das Feuer und griff in die Tasche ihres Kleides. Etwas Papier und einen Bleistift hatte sie immer dabei, jahrelang hatten sie ihr die Zunge ersetzt. Nun war ihre Stimme zurück, doch für die Nachricht an Staubfinger war eine hölzerne Zunge nützlicher. Mit bebenden Fingern begann sie zu schreiben, ohne die misstrauischen Augen zu beachten, die ihrer Hand folgten, als täte sie etwas Verbotenes.
»Sie kann schreiben«, stellte der Zahnlose fest. Die Missbilligung in seiner Stimme war unüberhörbar. Es war lange, sehr lange her, dass Resa in Orten jenseits des Waldes auf den Märkten gesessen hatte, in Männerkleidern, das Haar kurz geschoren, weil sie keine andere Art gewusst hatte, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen als durchs Schreiben - ein Handwerk, das Frauen verboten war in dieser Welt. Sklaverei war die Strafe, und eine Sklavin hatte es aus ihr gemacht, Mortolas Sklavin. Denn sie war es gewesen, die ihre Verkleidung entdeckt und sie zum Lohn hatte mitnehmen dürfen, mit auf Capricorns Festung.
»Staubfinger wird das nicht lesen können«, stellte Wolkentänzer mit ruhiger Stimme fest.
»Doch, das wird er. Ich hab es ihm beigebracht.«
Wie ungläubig sie sie anblickten. Buchstaben. Rätselhafte Dinger, Werkzeuge der Reichen, nicht gedacht für Gaukler und bestimmt nicht für Frauen.
Nur Wolkentänzer lächelte. »Nun sieh einer an. Staubfinger kann lesen«, sagte er leise. »Gut, aber ich kann es nicht. Also sag mir besser, was du geschrieben hast, damit ich ihm die Worte auch noch überbringen kann, falls dein Zettel verloren geht. Mit geschriebenen Worten geschieht das leicht, viel leichter als mit denen, die man im Kopf hat.«
Resa blickte Wolkentänzer ins Gesicht. Du traust den Leuten viel zu schnell... Wie oft hatte Staubfinger ihr das gesagt, aber welche Wahl hatte sie? Mit leiser Stimme wiederholte sie, was sie geschrieben hatte: »Lieber Staubfinger, ich bin mit Mo im Lager der Spielleute, tief im Weglosen Wald. Mortola und Basta haben uns hergebracht und Mortola - «, die Stimme versagte ihr, als sie es aussprach, »- Mortola hat auf Mo geschossen. Meggie ist auch hier, ich weiß nicht, wo, aber bitte, such sie und bring sie zu mir! Beschütze sie, so wie du es bei mir versucht hast. Aber hüte dich vor Bastal Resa.«
»Mortola? War das nicht der Name der Alten, die bei den Brandstiftern hauste?« Dem Spielmann, der das fragte, fehlte die rechte Hand. Ein Dieb - für ein Brot verlor man die linke, für ein Stück Fleisch die rechte.
»Ja, man sagt, sie hat mehr Männer vergiftet, als der Natternkopf Haare auf dem Kopf hat!« Wolkentänzer stieß ein Stück Holz zurück ins Feuer. »Und Basta hat Staubfinger damals das Gesicht aufgeschlitzt. Die beiden Namen wird er nicht gern hören.«
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