Door schaute Richard nicht an, als sie behende und geschmeidig abwärts kletterte.
Der Marquis kratzte sich am Nasenflügel. »Junger Mann«, sagte er, »es gibt zwei Londons. Ober-London – dort haben Sie gelebt –, und dann gibt es noch Unter-London – die Unterseite –, bewohnt von den Menschen, die durchs Netz gerutscht sind. Zu denen gehören Sie jetzt. Gute Nacht.«
Er begann, die Leiter zum Siel hinunterzuklettern. Richard sagte: »Moment mal!« und erwischte den Gullydeckel, bevor er sich schließen konnte. Er folgte dem Marquis hinab.
Im oberen Teil des Siels roch es nach Kloake – ein toter, seifiger Kohlgeruch. Er erwartete, daß der Gestank schlimmer würde, je tiefer er käme, doch statt dessen verflüchtigte er sich rasch.
Graues Wasser floß seicht, aber schnell am Boden des Backsteintunnels entlang.
Richard stieg hinein. Vor sich sah er die Lichter der anderen, und er watete durch den Tunnel, bis er sie eingeholt hatte.
»Gehen Sie weg«, sagte der Marquis.
»Nein«, erwiderte er.
Door schaute zu ihm empor. »Es tut mir wirklich leid, Richard«, erklärte sie.
Der Marquis trat zwischen sie. »Sie können nicht mehr zurück zu Ihrer alten Wohnung oder Ihrer alten Stellung oder Ihrem alten Leben«, sagte er beinahe sanft. »Nichts davon existiert. Sie existieren dort oben nicht.« Sie hatten eine Kreuzung erreicht, an der drei Tunnel aufeinanderstießen. Door und Hunter gingen, ohne sich umzuschauen, in den hinein, der kein Wasser führte. Der Marquis blieb stehen.
»Sie müssen eben das Beste draus machen«, sagte er zu Richard, »hier unten in der Kanalisation und der Magie und der Finsternis.« Und dann grinste er breit: »Tja – war mir ein Vergnügen, Sie wiederzusehen. Viel Glück. Wenn Sie die nächsten ein oder zwei Tage überleben, halten Sie vielleicht sogar einen ganzen Monat durch.«
Und damit drehte er sich um und marschierte das Siel hinunter.
Richard lehnte sich gegen eine Wand und lauschte auf den Hall der sich entfernenden Schritte und das Rauschen des vorbeifließenden Wassers, das zu den Wasserwerken und Kläranlagen Ost-Londons unterwegs war.
»Scheiße«, sagte er.
Und dann begann Richard Mayhew zu seiner Überraschung erstmals seit dem Tod seines Vaters, allein, in der Finsternis, zu weinen.
Die U-Bahn-Haltestelle war ganz leer und ganz dunkel. Varney hielt sich dicht an der Wand und schaute nervös nach hinten, nach vorn und von einer Seite zur anderen.
Er war ganz zufällig hier gelandet, nachdem er über die Dächer und durch die Schatten geflüchtet war, um sicherzugehen, daß ihm niemand folgte. Er wollte nicht zurück in seine Höhle in den tiefen Tunneln von Camden Town. Zu riskant. Es gab noch andere Orte, an denen Varney Waffen und Lebensmittel versteckt hatte. Er würde eine Weile untertauchen. Bis all dies vergessen war.
Neben einem Fahrkartenautomaten hielt er inne und lauschte in die Dunkelheit.
Absolute Stille. Offenbar war er allein. Endlich konnte er sich eine Verschnaufpause gönnen. Er blieb am oberen Ende der Wendeltreppe stehen und holte tief Luft.
Eine Stimme neben ihm, so schmierig wie Motoröl, säuselte: »Varney ist der beste Bravo und Beschützer der Unterseite. Das weiß doch jeder. Mister Varney hat es uns selbst gesagt.«
Auf Varneys anderer Seite antwortete eine Stimme milde: »Er hat gelogen, Mister Croup. Und so etwas tut man nicht.« In der pechschwarzen Finsternis fuhr Mr. Croup fort: »Allerdings nicht, Mister Vandemar. Ich muß sagen, ich betrachte ein derartiges Verhalten als persönlichen Verrat, und es hat mich tief verletzt. Und enttäuscht. Wenn man keine guten Seiten hat, reagiert man auf Enttäuschungen nicht besonders freundlich, nicht wahr, Mister Vandemar?«
»Alles andere als freundlich, Mister Croup.«
Varney preschte vor und rannte im Dunkeln holterdipolter die Wendeltreppe hinunter.
Eine Stimme vom oberen Ende der Treppe, Mr. Croups: »Eigentlich«, sagte er, »sollten wir es als Gnadentod betrachten.«
Das Klacken von Varneys Füßen auf dem Metallgitter hallte durch den Treppenschacht. Er schnaufte, und er keuchte, er stieß sich die Schultern an den Wänden, während er in der Finsternis blind abwärts stolperte.
Er erreichte die unterste Stufe, neben dem Schild, das die Fahrgäste warnte, bis nach oben seien es 259 Stufen, und das sei nur etwas für gesunde Menschen. Jeder andere, stand auf dem Schild, solle den Aufzug benutzen.
Den Aufzug?
Etwas schepperte, die Aufzugtüren öffneten sich mit erhabener Langsamkeit, und Licht flutete den Gang.
Varney suchte nach seinem Messer, fluchte, als ihm einfiel, daß Hunter, diese Schlampe, es noch hatte. Er griff nach der Machete in seinem Schulterhalfter.
Sie war weg.
Hinter sich hörte er ein höfliches Husten, und er drehte sich um.
Mr. Vandemar saß auf den Stufen am Fuße der Wendeltreppe.
Er war dabei, sich mit Varneys Machete die Nägel zu säubern.
Und plötzlich fiel Mr. Croup über ihn her, mit Zähnen und Klauen und kleinen Klingen, und Varney konnte nicht einmal mehr schreien.
»Adieu«, sagte Mr. Vandemar ungerührt, und er fuhr fort, sich die Nägel zu maniküren.
Und dann begann das Blut zu fließen. Nasses, rotes Blut in ungeheuren Mengen, denn Varney war ein großer Mann, und er hatte all dieses Blut in sich gehabt.
Als Mr. Croup und Mr. Vandemar fertig waren, konnte man den blassen Fleck auf dem Boden am Fuß der Wendeltreppe allerdings kaum noch erkennen.
Nach der nächsten Bodenreinigung war er für immer verschwunden.
Hunter marschierte voran. Door ging in der Mitte. Der Marquis de Carabas folgte als letzter. Keiner von ihnen hatte etwas gesagt, seit sie Richard vor einer halben Stunde verlassen hatten.
Door blieb plötzlich stehen. »Das können wir nicht tun«, erklärte sie. »Wir können ihn nicht einfach dort zurücklassen. «
»Natürlich können wir das«, sagte der Marquis. »Wir haben es bereits getan.«
Sie schüttelte den Kopf. Seit sie Richard bei Harrods rücklings unter Ruislip am Boden liegen sehen hatte, hatte sie ein schlechtes Gewissen und kam sich dumm vor. Jetzt reichte es ihr.
»Seien Sie nicht albern«, sagte der Marquis.
»Er hat mir das Leben gerettet«, erklärte sie ihm. »Er hätte mich auf der Straße liegenlassen können. Aber das hat er nicht getan.«
Der Marquis zog eine Augenbraue hoch: gleichgültig, distanziert, durch und durch sarkastisch. »Meine liebe junge Lady«, sagte er. »Wir werden auf diese Expedition keine Passagiere mitnehmen.«
»Hören Sie auf, mich zu bevormunden, de Carabas«, sagte Door. Sie klang müde. »Ich glaube, ich kann allein entscheiden, wer mit uns kommt. Sie arbeiten doch für mich, nicht wahr? Oder ist es etwa umgekehrt?«
Er starrte sie an, kalt und wütend. »Er kommt nicht mit«, stellte er kategorisch fest. »Außerdem ist er wahrscheinlich sowieso schon tot.«
Richard war nicht tot. Er saß im Dunkeln auf dem Seitenvorsprung eines Siels und fragte sich, was er tun sollte, fragte sich, wie sehr er den Boden noch unter den Füßen verlieren konnte.
Sein bisheriges Leben, fand er, hatte ihn perfekt auf einen Job im Wertpapiergeschäft vorbereitet, aufs Einkaufen im Supermarkt, aufs samstagnachmittägliche Fernsehfußballgucken und darauf, eine Heizung anzustellen, wenn ihm kalt war. Überhaupt nicht vorbereitet hatte es ihn jedoch auf ein Leben als Unperson auf den Dächern und in der Kanalisation Londons, ein Leben in Kälte, Nässe und Finsternis.
Ein Licht flackerte. Schritte näherten sich ihm. Wenn, beschloß er, das eine Horde von Mördern, Kannibalen oder Monstern sein sollte, würde er keinen Widerstand leisten. Sollten sie doch all dem ein Ende machen; er hatte genug. Er starrte ins Dunkel hinab, dorthin, wo er seine Füße vermutete. Die Schritte kamen näher.
Читать дальше