Die eisenhaarige Frau, die den nächstgelegenen Essensstand betrieb, reichte Richard nicht mal bis zur Taille. Als Richard versuchte, sie anzusprechen, schüttelte sie den Kopf und fuhr sich mit dem Finger über die Lippen. Sie konnte nicht sprechen, oder sie sprach einfach nicht, oder sie wollte nicht sprechen. Richard blieb nichts anderes übrig, als die Verhandlungen um ein Sandwich mit Hüttenkäse und grünem Salat und einen Becher mit einer Flüssigkeit, die wie eine Art selbstgemachter Limonade aussah und roch, in Gebärdensprache zu führen.
Sein Essen kostete ihn einen Kugelschreiber und ein Streichholzbriefchen, von dessen Existenz er nichts mehr gewußt hatte.
Die kleine Frau mußte der Ansicht gewesen sein, sie sei bei dem Handel viel zu gut weggekommen, denn als er sein Essen entgegennahm, schenkte sie ihm noch ein paar kleine, nussige Kekse dazu.
Richard stand mitten im Gedränge und lauschte der Musik – aus irgendeinem Grund, der sich ihm nicht so ohne weiteres erschloß, sang jemand den Text von ›Greensleeves‹ zur Melodie von ›Yackety-Yak‹ –, sah zu, wie sich der bizarre Basar um ihn herum entfaltete, und aß sein Sandwich.
Als er damit fertig war, stellte er fest, daß er sich nicht an den Geschmack dessen, was er da gerade verzehrt hatte, erinnern konnte, und er beschloß, sich etwas zu bremsen und die Kekse langsamer zu kauen. Die Limonade trank er in ganz kleinen Schlucken, damit sie länger reichte.
»Brauchen Sie einen Vogel, mein Herr?« fragte eine muntere Stimme direkt neben ihm. »Ich habe Krähen und Raben, Dohlen und Stare. Schöne, kluge Vögel. Schmackhaft und schlau. Ganz fantastisch.«
Richard sagte: »Nein, danke«, und drehte sich um.
Auf dem handgemalten Schild über der Bude stand: »OLD BAILEY – VÖGEL UND INFORMATIONEN«
Darum herum hingen weitere, kleinere Schilder: »ANTWORTEN AUF ALLE FRAGEN!« und »NUR HIER – DIE FETTESTEN STARE!!!!« und »APPETIT AUF KRÄHE? KOMMEN SIE ZU OLD BAILEY!!« Richard fühlte sich an einen Mann erinnert, den er mal gesehen hatte, als er gerade frisch in London angekommen war. Der Mann hatte vor der U-Bahn-Haltestelle Leicester Square gestanden, ein Werbetafel-Sandwich umgehängt mit der Aufschrift: »Weniger Geilheit durch weniger Proteine, Eier, Fleisch, Bohnen, Käse und Sitzen.« Vögel hüpften und flatterten in kleinen Käfigen herum, die aussahen, als seien sie aus Fernsehantennen geflochten.
»Dann vielleicht Informationen?« fuhr Old Bailey, ganz Geschäftsmann, fort. »Dachkarten? Historisches? Geheimnisse und Mysterien? Was ich nicht weiß, macht niemanden heiß, pflege ich zu sagen.«
Der alte Mann hatte immer noch seinen Federmantel an und war immer noch mit Stricken und Seilen umwickelt. Er blinzelte Richard an, setzte dann eine Brille auf, die an einem Band um seinen Hals hing, und inspizierte ihn sorgfältig.
»Momentchen. Dich kenn’ ich. Du warst doch mit dem Marquis de Carabas oben auf den Dächern. Weißt du noch? He? Ich bin Old Bailey. Kennst mich noch?« Er streckte seine Hand aus und schüttelte Richards heftig.
»Den Marquis«, sagte Richard, »suche ich gerade. Und eine junge Dame namens Door. Ich nehme an, sie sind zusammen unterwegs.«
Der alte Mann machte einen kleinen Sprung, woraufhin sich mehrere Federn von seinem Mantel lösten und die verschiedenen Vögel um die beiden herum sich heiser beschwerten.
»Informationen! Informationen!« posaunte er in den vor Menschen wimmelnden Raum hinaus. »Siehst du? Ich hab’s ihnen gesagt. Ihr müßt euer Angebot erweitern, hab’ ich gesagt. Erweitern! Man kann nicht ewig Krähen für den Eintopf verkaufen – die schmecken sowieso wie ausgekochte Pantoffeln. Und außerdem sind sie dämlich. Dumm wie Bohnenstroh. Schon mal Krähe gegessen?« Richard schüttelte den Kopf. Das wenigstens wußte er genau.
»Was gibst du mir?« fragte Old Bailey.
»Wie bitte?« fragte Richard, der Mühe hatte, im Bewußtseinsstrom des alten Mannes von einer Eisscholle zur nächsten zu springen.
»Wenn ich dir deine Informationen gebe. Was kriege ich dafür?«
»Geld habe ich nicht«, sagte Richard. »Und meinen Kugelschreiber habe ich gerade weggegeben.«
Er begann, seine Taschen zu leeren.
»Da!« sagte Old Bailey. »Das!«
»Mein Taschentuch?« fragte Richard. Es war kein ausgesprochen sauberes Taschentuch; seine Tante Maude hatte es ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt.
Old Bailey riß es ihm aus der Hand und schwenkte es glücklich über seinem Kopf.
»Sei ohne Furcht, mein Junge!« jubilierte er. »Deine Suche ist zu Ende! Geh dort entlang, durch jene Tür. Du kannst sie nicht verfehlen. Sie schauen sich gerade Bewerber an.«
Eine Krähe krächzte gehässig.
»Halt den Schnabel«, sagte Old Bailey zu der Krähe. Und zu Richard sagte er: »Dank sei dir für die kleine Flagge.«
Er hüpfte erfreut um seinen Stand herum und schwenkte Richards Taschentuch hin und her.
Bewerber? dachte Richard. Und dann lächelte er. Es spielte keine Rolle. Seine Suche war, wie der verrückte alte Dachmann gesagt hatte, zu Ende.
Er machte sich auf den Weg zur Lebensmittelabteilung.
Trends waren für einen Leibwächter die Hauptsache. Sie alle beherrschten irgendeinen Trick, und jeder war sehr darauf erpicht, diesen öffentlich vorzuführen.
In diesem Moment standen sich Ruislip und der Lackaffe ohne Namen gegenüber.
Der Lackaffe ohne Namen sah ein wenig aus wie ein Lebemann des frühen achtzehnten Jahrhunderts, der nicht das Richtige zum Anziehen gefunden hatte und sich deshalb mit dem behelfen mußte, was die Second-hand-Läden hergaben. Sein Gesicht war weiß gepudert, seine Lippen aufgemalt.
Ruislip, der Gegner des Lackaffen, sah aus wie etwas, wovon man vielleicht träumt, wenn man vor einem Sumo-Ringkampf im Fernsehen einschläft, während im Hintergrund eine Bob-Marley-Platte läuft: ein riesiger Rastafari, der Ähnlichkeit mit einem übergewichtigen Riesenbaby hatte. Sie standen einander in der Mitte eines Kreises gegenüber, umringt von Zuschauern, anderen Leibwächtern und Schaulustigen.
Keiner der beiden Männer bewegte einen Muskel.
Der Lackaffe war einen guten Kopf größer als Ruislip. Ruislip hingegen wog soviel wie vier Lackaffen zusammen, jeder mit einem großen Lederkoffer voller Speck in der Hand.
Stocksteif starrten sie einander an.
Der Marquis de Carabas tippte Door auf die Schulter und zeigte auf die beiden. Gleich würde etwas geschehen.
Zwei Männer, und sie schauten einander nur an …
Da schoß der Kopf des Lackaffen ruckartig nach hinten, als habe er gerade einen Schlag ins Gesicht erhalten. Eine kleine, rötlichblaue Schramme erschien auf seiner Wange. Er schürzte die Lippen, und seine Lider flatterten.
»Oho!« sagte er, dann verzog er seine geschminkten Lippen zu der geisterhaften Parodie eines breiten Lächelns. Er machte eine Handbewegung.
Ruislip wankte und griff sich an den Magen.
Der Lackaffe ohne Namen grinste abscheulich affektiert, drohte mit dem Finger und hauchte mehreren Zuschauern Küßchen zu.
Ruislip starrte den Lackaffen wütend an und verdoppelte seine gedankliche Schlagkraft.
Blut begann von den Lippen des Lackaffen zu tropfen. Sein linkes Auge schwoll langsam an. Er wankte. Das Publikum murmelte anerkennend.
»Das ist nicht so eindrucksvoll, wie es aussieht«, flüsterte der Marquis Door zu.
Der Lackaffe ohne Namen stolperte plötzlich. Er sank auf die Knie, als ob ihn jemand niederzwang, und fiel zu Boden. Dann durchfuhr ihn ein Ruck, als hätte ihn gerade jemand kräftig in den Magen getreten.
Ruislip schaute sich triumphierend um. Die Zuschauer klatschten höflich. Der Lackaffe krümmte sich und spuckte Blut in das Sägemehl auf dem Boden von Harrods’ Fisch- und Fleischabteilung.
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