Anaesthesia trat zwischen Richard und Varney. Sie funkelte den großen Mann an und fauchte wie eine in die Enge getriebene, wütende Ratte. Varney trat einen Schritt zurück.
Er spuckte Richard auf die Schuhe. Dann wandte er sich ab, und das Grüppchen ging über die Brücke in die Dunkelheit. »Alles in Ordnung?« fragte Anaesthesia und half Richard wieder auf die Beine.
»Mir fehlt nichts«, sagte er. »Das war wirklich mutig von dir.«
Sie schaute schüchtern zu Boden. »Eigentlich bin ich gar nicht mutig«, sagte sie. »Ich fürchte mich immer noch vor der Brücke. Selbst die da eben hatten Angst. Deshalb sind sie alle zusammen rübergegangen. Zu mehreren fühlen sie sich sicherer. Die mit ihrer großen Klappe.«
»Wenn Sie über die Brücke gehen, komme ich mit«, sagte eine weibliche Stimme.
Richard sollte es nie gelingen, ihren Akzent einzuordnen. Damals dachte er, sie sei Kanadierin oder Amerikanerin. Später meinte er, sie könnte Afrikanerin gewesen sein oder Australierin oder sogar Inderin. Er konnte es einfach nicht sagen.
Sie war eine große Frau mit langem lohfarbenem Haar und dunkler karamelfarbener Haut. Sie trug graubraun marmoriertes Leder. Über ihre Schulter hing ein abgenutzter lederner Matchbeutel.
Sie hatte einen Stab in der Hand, in ihrem Gürtel steckte ein Messer, und an ihrem Handgelenk war eine Taschenlampe befestigt.
Sie war zweifelsohne die schönste Frau, die Richard je gesehen hatte.
»Zu mehreren fühlt man sich sicherer. Sie können gerne mit uns kommen«, sagte er nach kurzem Zögern. »Mein Name ist Richard Mayhew. Das ist Anaesthesia. Sie ist diejenige von uns beiden, die weiß, was sie tut.«
Das Rattenmädchen warf sich in die Brust.
Die Lederfrau musterte ihn von oben bis unten. »Sie kommen aus Ober-London«, stellte sie fest.
»Ja.«
»Und reisen mit einer Rattensprecherin. Gute Güte.«
»Ich bin seine Beschützerin«, sagte Anaesthesia trotzig. »Wer sind Sie? Wem sind Sie untertan?«
Die Frau lächelte. »Ich bin niemandem untertan, Rattenmädchen. Ist einer von euch schon mal über die Night’s Bridge gegangen?«
Anaesthesia schüttelte den Kopf.
»Aha. Na, das kann ja was werden.«
Sie gingen auf die Brücke zu.
Anaesthesia reichte Richard ihre Lampe. »Hier«, sagte sie.
»Danke.« Richard schaute die Frau in Leder an. »Gibt es denn da wirklich etwas, vor dem man Angst haben müßte?«
»Nur die Nacht auf der Brücke«, sagte sie.
»Die Nacht? Ich dachte, es heißt Knightsbridge – Ritterbrücke. «
»Nein, bei uns ist es die Night’s Bridge, die Brücke der Nacht.«
Anaesthesias winzige Hand suchte Richards. Er hielt sie fest. Sie lächelte ihn an und drückte ihm die Hand.
Und dann betraten sie die Brücke, und Richard begann zu begreifen, was Dunkelheit ist: etwas Festes und Reales.
Er spürte die Berührung der Finsternis auf seiner Haut, suchend, wandernd, forschend glitt sie durch seine Gedanken. Sie drang in seine Lungen, hinter seine Augen, in seinen Mund …
Mit jedem Schritt wurde das Licht der Kerze schwächer. Er stellte fest, daß auch die Taschenlampe der Lederfrau ihren Geist aufgab.
Finsternis, völlige Finsternis.
Geräusche. Ein Rascheln, ein Zucken. Richard blinzelte, geblendet von der Nacht.
Die Geräusche wurden häßlicher, hungriger. Richard glaubte, Stimmen zu hören: eine Horde riesiger, mißgebildeter Trolle unter der Brücke …
Irgend etwas glitt im Dunkeln an ihnen vorbei.
»Was ist das?« quiekte Anaesthesia. Ihre Hand zitterte in seiner.
»Still«, flüsterte die Frau. »Mach sie nicht auf uns aufmerksam. «
»Was geht hier vor?« flüsterte Richard.
»Die Finsternis«, sagte die Lederfrau sehr leise. »All die Alpträume, die seit der Zeit, als wir noch in Höhlen wohnten, als wir voll Angst zusammenrückten, um uns sicher zu fühlen und es warm zu haben, herauskommen, wenn die Sonne untergeht. Jetzt ist es an der Zeit, Angst vor der Dunkelheit zu haben.«
Richard wußte, daß ihm gleich etwas übers Gesicht krabbeln würde. Er schloß die Augen: An dem, was er sah und spürte, änderte das nichts. Die Nacht war vollkommen.
Und dann begannen die Halluzinationen.
Er sah eine Gestalt, die brennend durch die Nacht auf ihn herabfiel. Ihre Flügel und Haare standen in Flammen.
Er riß die Hände hoch: Da war nichts.
Jessica schaute ihn an, mit Verachtung im Blick.
Er wollte ihr etwas zurufen, ihr sagen, daß es ihm leid tat.
Einen Fuß nach dem anderen.
Er war ein kleines Kind auf dem Heimweg von der Schule, abends, auf der einzigen Straße ohne Beleuchtung. Egal, wie oft er den Weg ging, er wurde nie leichter, wurde nie besser.
Er steckte tief in der Kanalisation, hatte sich in einem Labyrinth verirrt. Das Ungeheuer wartete auf ihn.
Er hörte langsam fallende Wassertropfen. Er wußte, daß das Ungeheuer wartete. Er umklammerte seinen Speer … Dann ein Grollen, tief in der Kehle des Ungeheuers hinter ihm. Er drehte sich um. Langsam, quälend langsam ging es durch die Finsternis auf ihn los.
Und es war bei ihm.
Er starb.
Und ging immer weiter.
Langsam, quälend langsam ging es auf ihn los, wieder und wieder, durch die Finsternis …
Es zischte, und eine Flamme leuchtete auf, so hell, daß es wehtat. Es war die Kerzenflamme in ihrer Lucozade-Flasche. Er hatte nicht gewußt, wie hell eine einzelne Kerze brennen kann. Stolz hielt er sie hoch.
»Wie es scheint, sind wir heil hinübergekommen«, sagte die Lederfrau.
Richard merkte, daß ihm das Herz bis zum Halse schlug, daß er nicht in der Lage war zu sprechen. Er zwang sich, langsam zu atmen, ruhig zu werden.
»Ich nehme an«, sagte er stockend, »wir waren gar nicht wirklich in Gefahr. Es war wie in einer Geisterbahn … ein paar Geräusche im Dunkeln. Die Fantasie besorgt den Rest. Es gab doch keinen Grund, sich zu fürchten, oder?«
Die Frau sah ihn beinahe mitleidig an, und Richard bemerkte, daß niemand seine Hand hielt.
»Anaesthesia?«
Aus der Dunkelheit am Scheitelpunkt der Brücke kam ein schwaches Geräusch, eine Art Rascheln oder Seufzen. Eine Handvoll unregelmäßig geformter Quarzperlen klickerte die Wölbung der Brücke hinab auf sie zu.
Richard hob eine auf. Sie stammte aus der Halskette des Rattenmädchens.
»Wir sollten. Wir müssen zurück. Sie ist …«
Die Frau hielt ihre Taschenlampe hoch und leuchtete damit über die Brücke. Richard konnte bis ganz hinüber sehen. Sie war menschenleer.
»Wo ist sie?«
»Weg«, sagte die Frau ungerührt. »Die Finsternis hat sie geholt.«
»Wir müssen etwas tun«, sagte Richard. »Zum Beispiel? «
Er öffnete den Mund. Schloß ihn wieder. Er betastete den Quarzklumpen und sah auf die anderen am Boden hinunter. »Ich weiß nicht.«
»Sie ist nicht mehr«, sagte die Frau. »Die Brücke fordert ihren Tribut. Seien Sie dankbar, daß sie Sie nicht auch geholt hat. Also, zum Markt geht es hier entlang. Kommen Sie?«
Richard stand ein paar hämmernde Herzschläge lang in der Dunkelheit, dann stopfte er die Quarzperle in die Tasche seiner Jeans und folgte der Frau, die ihm einige Schritte vorausging.
Während er hinter ihr herlief, stellte er fest, daß er immer noch nicht ihren Namen wußte.
Menschen wuselten durch die Dunkelheit um sie herum, Lampen und Fackeln und Kerzen in den Händen. Richard mußte an Filme über Fische denken, die in glitzernden Schwärmen durch den Ozean flitzen … Tiefes Wasser, bewohnt von Dingen, die ihre Augen nicht mehr gebrauchen konnten. Da verlor man wirklich den Boden unter den Füßen …
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