»Laß uns gehen«, sagte Richard zu Anaesthesia. Langsam fand er die Bank nicht mehr so verlockend, und sie standen auf und gingen davon. Anaesthesia blickte sich neugierig nach dem Paar auf der Bank um, das sich nach und nach in die Horizontale begab.
Richard sagte nichts.
»Stimmt was nicht?« fragte Anaesthesia.
»Rein gar nichts«, sagte Richard. »Lebst du schon immer da unten?«
»Nee. Geboren bin ich hier oben«, sie zögerte. »Willst du das wirklich hören?«
Richard stellte beinahe überrascht fest, daß er es durchaus hören wollte. »Ja.«
Sie spielte mit den ungeschliffenen Quarzperlen, die an einer Kette um ihren Hals hingen, und sie begann zu reden, ohne ihn anzusehen.
»Nachdem Mum mich und meine Schwestern gekriegt hatte, is’ sie plötzlich durchgedreht. Da is’ so eine Frau gekommen und hat meine Schwestern abgeholt, und ich kam zu meiner Tante. Die wohnte mit so einem Typen zusammen. Der hat mir immer wehgetan. Und nich’ nur das. Ich habs meiner Tante erzählt, und sie hat mich geschlagen. Hat gesagt, ich würde lügen. Und sie würde mir die Polizei auf den Hals hetzen. Aber ich hab’ nich’ gelogen. Da bin ich weggelaufen. An meinem Geburtstag. «
Sie hatten die Albert Bridge erreicht, ein mit Tausenden von winzigen gelben Lichtern behangenes Kitschmonument.
»Es war so kalt«, sagte Anaesthesia, und sie hielt inne. »Ich schlief auf der Straße. Tagsüber, wenn es etwas wärmer war, schlief ich, und nachts lief ich umher, nur um in Bewegung zu bleiben. Ich war elf. Zum Essen hab’ ich Brot und Milch aus Hauseingängen geklaut. Gehaßt hab’ ich das. Hab’ immer auf den Straßenmärkten rumgehangen und die verfaulten Äpfel und Orangen und so aufgesammelt, die die Leute wegwarfen. Dann bin ich sehr krank geworden. Ich lebte unter einer Eisenbahnbrücke in Notting Hill. Als ich wieder zu mir kam, war ich in Unter-London. Die Ratten hatten mich gefunden.«
»Hast du jemals versucht, zu all dem hier zurückzukehren? « fragte er und machte eine Handbewegung. Ruhige, warme, bewohnte Häuser. Autos in der Nacht. Das wahre Leben …
Sie schüttelte den Kopf. Jedes Feuer brennt, kleines Baby. Das wirst du noch lernen. »Das geht nicht. Entweder das eine oder das andere. Beides gibt’s nicht.«
»Tut mir leid«, sagte Door stockend. Ihre Augen waren immer noch gerötet.
Der Marquis, der sich die Zeit vertrieben hatte, indem er mit ein paar alten Münzen und Knochen eine Partie Knucklebones gespielt hatte, sah zu ihr auf. »Tatsächlich ?«
Sie biß sich auf die Unterlippe. »Nein. Eigentlich nicht. Es tut mir nicht leid. Ich mußte die ganze Zeit immer nur weglaufen und mich verstecken, so daß … ich jetzt zum ersten Mal die Gelegenheit hatte, zu …« Sie sprach nicht weiter.
Die Marquis schob die Münzen und Knochen zusammen hob sie auf und steckte sie wieder in eine seiner vielen Taschen.
»Nach Ihnen«, sagte er.
Er folgte ihr zurück zu der Bilderwand. Sie legte eine Hand auf das Bild des Arbeitszimmers ihres Vaters und nahm mit der anderen die Hand des Marquis.
… die Wirklichkeit verschwamm …
Sie waren im Wintergarten und gossen die Pflanzen.
Ingress hatte ihre eigene kleine Gießkanne. Darauf war sie sehr stolz. Sie sah genauso aus wie die ihrer Mutter.
Sie begann zu lachen, ein spontanes Kleinmädchenlachen. Und auch ihre Mutter lachte, bis der füchsisch fiese Mr. Croup plötzlich scharf an ihren Haaren riß und ihr von einem Ohr zum anderen die Kehle durchschnitt.
»Hallo, Daddy«, sagte Door leise.
Sie berührte die Büste ihres Vaters mit den Fingern und streichelte seine Wange. Ein dünner, asketischer Mann, fast kahl. Caesar als Prospero, dachte der Marquis de Carabas. Ihm war etwas übel. Das letzte Bild hatte sehr wehgetan.
Aber immerhin: Er stand in Lord Porticos Arbeitszimmer. Das hatte es noch nicht gegeben.
Er sah sich den Raum genau an, ließ seinen Blick über jedes Detail schweifen. Das ausgestopfte Krokodil, das von der Decke hing, die Bücher, ein Astrolabium, Spiegel, seltsame wissenschaftliche Geräte; Landkarten an den Wänden; ein Schreibtisch voller Briefe.
Die weiße Wand hinter dem Schreibtisch war durch einen rötlichbraunen Fleck verunstaltet.
Auf dem Schreibtisch stand ein kleines Bild von Doors Familie. Der Marquis starrte es an.
»Ihre Mutter und Ihre Schwester. Ihr Vater. Und Ihr Bruder. Alle tot. Wie sind Sie entkommen?«
Sie ließ die Hand sinken. »Ich hatte Glück. Ich war für ein paar Tage auf Entdeckungsreise … wußten Sie, daß am Kilburn River immer noch ein paar römische Soldaten lagern?«
Davon hatte der Marquis tatsächlich nichts gewußt, und das ärgerte ihn. »Hmm. Wie viele?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ein paar Dutzend. Sie sind von der Neunzehnten Legion desertiert, glaube ich. Mein Latein ist etwas lückenhaft. Jedenfalls, als ich dann wieder herkam …«
Sie schwieg, schluckte, und in ihren seltsam gefärbten Augen standen Tränen.
»Reißen Sie sich zusammen«, sagte der Marquis knapp. »Wir brauchen das Tagebuch Ihres Vaters. Wir müssen herausfinden, wer das getan hat.«
Sie runzelte die Stirn. »Wir wissen, wer das getan hat. Es waren Croup und Vandemar – «
Er streckte fünf Finger in die Luft und bewegte sie, während er sprach. »Die beiden sind Arme. Hände. Finger. Dazu gehört ein Kopf, der die Anordnungen gibt und der auch Ihren Tod will. Die beiden sind nicht billig. «
Er schaute sich in dem vollgestopften Büro um. »Sein Tagebuch?« fragte der Marquis.
»Hier ist es nicht«, sagte sie. »Hab’ ich Ihnen doch gesagt. Ich habe schon danach gesucht.«
»Ich habe fälschlicherweise geglaubt, Ihre Familie hätte die Fähigkeit, Türen zu finden, sichtbare ebenso wie unsichtbare. «
Sie warf ihm einen wütenden Blick zu. Dann schloß sie die Augen und umfaßte ihren Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger.
Der Marquis untersuchte die Gegenstände auf Porticos Schreibtisch. Ein blauschwarzes Tintenfaß, eine Schachfigur, ein knöcherner Würfel, eine goldene Taschenuhr, einige Federkiele und …
Interessant.
Es war eine kleine Statue eines Keilers oder eines kauernden Bären oder vielleicht eines Stiers. Es war schwer zu sagen. Sie hatte die Ausmaße einer großen Schachfigur und war grob aus schwarzem Obsidian gemeißelt. Sie erinnerte ihn an etwas, doch er wußte nicht, an was.
Er nahm sie hoch, drehte sie um. Schlang seine Finger darum.
Door ließ ihre Hand sinken. Sie sah verblüfft und verwirrt aus.
»Was ist los?« fragte er.
»Es ist hier«, sagte sie nur. Sie begann, durch das Arbeitszimmer zu gehen, und wandte dabei ihren Kopf erst zur einen und dann zur anderen Seite.
Der Marquis steckte die Figur in eine seiner Innentaschen. Door stand vor einem hohen Schrank. »Da«, sagte sie. Sie streckte eine Hand aus: Es klickte, und in der Seitenwand des Schranks öffnete sich ein kleines Fach. Door griff in die Dunkelheit und holte etwas heraus, das etwa die Größe und Form eines Kricketballs hatte. Sie reichte es dem Marquis.
Es war eine Kugel aus altem Messing und poliertem Holz, mit Einlegearbeiten aus glänzendem Kupfer und gläsernen Linsen.
Er nahm sie ihr aus der Hand. »Das ist es?«
Sie nickte.
»Gut gemacht.«
Sie sah bekümmert aus. »Ich weiß gar nicht, wie ich das übersehen konnte.«
»Sie waren außer sich«, sagte der Marquis. »Ich war mir sicher, daß es hier sein würde. Und ich liege nur sehr selten falsch. Nun … «, er hielt die kleine Holzkugel hoch. Das Licht fing sich im Glas und spiegelte sich im Kupfer und Messing. Es verdroß ihn, aber er fragte trotzdem: »Wie funktioniert das?«
Anaesthesia hatte Richard in einen kleinen Park auf der anderen Seite der Brücke gebracht und dann ein paar Stufen neben einer Mauer hinuntergeführt. Sie zündete ihre Kerze wieder an. Sie öffnete eine für Kanalarbeiter bestimmte Tür und schloß sie hinter ihnen wieder.
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