»Earl’s Court liegt nicht an der Central Line«, erklärte Richard.
Der Marquis starrte Richard mit unverhohlener Belustigung an. »Sie sind wirklich von einer erfrischenden Intelligenz, junger Mann«, sagte er. »Es geht doch nichts über totale Ahnungslosigkeit, nicht wahr?«
Der Wind setzte ein. Eine U-Bahn hielt an der Haltestelle. Menschen stiegen aus, und andere Menschen stiegen ein, mit ihren alltäglichen Verrichtungen beschäftigt, und Richard beobachtete sie voll Neid.
»Zurückbleiben, bitte«, deklamierte eine Tonbandstimme. »Treten Sie von den Türen zurück. Zurückbleiben, bitte.«
Door warf Richard einen Blick zu. Dann, besorgt über das, was sie da sah, ging sie zu ihm und nahm seine Hand. Er war blaß, und sein Atem ging flach und schnell.
»Zurückbleiben, bitte«, dröhnte die Tonbandstimme wieder.
»Mir fehlt nichts«, log Richard tapfer niemand Speziellen an.
Der Innenhof des Krankenhauses, in dem Mr. Croup und Mr. Vandemar wohnten, war ein naßkalter und freudloser Ort. Struppiges Gras wuchs durch die zurückgelassenen Schreibtische, Gummireifen und Büromöbel hindurch. Alles in allem entstand der Eindruck, hier hätten vor zehn Jahren (vielleicht aus Langeweile, vielleicht aus Frust, vielleicht sogar als Grundsatzerklärung oder als Kunstperformance) ein paar Leute alles, was sich in ihren Büros befand, oben aus dem Fenster geworfen und dem Verfall überlassen.
Es fanden sich auch Glassplitter dort. Glassplitter im Überfluß. Außerdem mehrere Matratzen. Aus irgendeinem nur schwer erklärlichen Grund waren ein paar dieser Matratzen irgendwann einmal in Brand gesetzt worden. Niemand wußte, weshalb; niemanden kümmerte es. Gras wuchs durch die Sprungfedern empor.
Um den Zierbrunnen in der Mitte des Hofes herum, der schon seit langem weder eine besondere Zierde noch ein Brunnen war, hatte sich ein richtiges Ökosystem entwickelt. Ein zerborstenes, undichtes Wasserrohr in der Nähe hatte ihn mit Hilfe von ein wenig Regenwasser in einen Brutplatz für kleine Frösche verwandelt, die lustig umherplumpsten und sich der Abwesenheit aller flügellosen natürlichen Feinde erfreuten. Krähen, Amseln und sogar die eine oder andere Möwe betrachteten den Ort wiederum als katzenfreien Feinkostladen für Froschspezialitäten.
Nacktschnecken krochen träge unter den Sprungfedern der verbrannten Matratzen umher; Schnirkelschnecken hinterließen Schleimspuren auf den Glassplittern. Große schwarze Käfer huschten emsig über die kaputten grauen Plastiktelefone und die verstümmelten Sindy-Puppen.
Mr. Croup und Mr. Vandemar waren hinaufgestiegen, weil sie eine Luftveränderung brauchten. Langsam schritten sie den Rand des Mittelhofes ab, Glassplitter unter ihren Füßen zermalmend. In ihren verschlissenen schwarzen Anzügen sahen sie aus wie Schatten.
Mr. Croup war von kaltem Zorn gepackt. Er ging doppelt so schnell wie Mr. Vandemar, umkreiste ihn fast tänzelnd vor Zorn. Von Zeit zu Zeit warf sich Mr. Croup in offenbar unbezähmbarer Wut gegen die Krankenhausmauer und bearbeitete sie mit Fäusten und Füßen, als wäre sie ein kümmerlicher Ersatz für einen echten Menschen.
Mr. Vandemar hingegen ging einfach nur. Sein Schritt war zu unbeirrbar, zu gleichmäßig und zu unerbittlich, um ihn als Schlendern zu bezeichnen. Der Tod geht wie Mr. Vandemar. Mr. Vandemar beobachtete ungerührt, wie Mr. Croup gegen eine Glasscheibe trat, die an einer Wand lehnte. Sie zerbarst mit einem befriedigenden Klirren.
»Ich, Mister Vandemar«, sagte Mr. Croup, während er den Trümmerhaufen begutachtete, »ich jedenfalls habe jetzt fast die Nase voll. Fast. Diese unentschlossene, vertrödelte, schlafmützige, zimperliche, käsegesichtige Kröte – am liebsten würde ich ihm die Augen aus den Höhlen drücken …«
Mr. Vandemar schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, sagte er. »Er ist unser Chef. Für diesen Auftrag. Wenn wir bezahlt worden sind, können wir uns vielleicht ein bißchen auf eigene Kosten amüsieren.«
Mr. Croup spuckte auf den Boden. »Dieser nichtsnutzige Narr läßt sich auch alles gefallen … Wir sollten die Schlampe abschlachten. Auslöschen, liquidieren, unter die Erde bringen und abschreiben.«
Ein Telefon begann laut zu klingeln. Mr. Croup und Mr. Vandemar schauten sich verwirrt um. Schließlich fand Mr. Vandemar das Telefon, halb unter einem Schotterhaufen oben auf einem Berg wasserfleckiger medizinischer Akten vergraben. Hinten ragten kaputte Drähte heraus. Er hob ab und reichte es Mr. Croup.
»Für Sie«, sagte er.
Mr. Vandemar mochte keine Telefone.
»Mister Croup hier«, sagte Croup. Dann, unterwürfig: »Oh. Sie sind es, Sir …«
Eine Pause.
»Im Moment läuft sie, ganz wie Sie es wünschten, frei wie ein Schmetterling herum. Ich fürchte, Ihre Idee mit dem Leibwächter war ein Schlag ins Abwasser … Varney? Ja, er ist ziemlich tot.«
Eine weitere Pause.
»Sir, ich bekomme langsam gewisse konzeptionelle Probleme mit meiner Rolle und der meines Partners bei all diesem Humbug.«
Es folgte eine dritte Pause, und Mr. Croup wurde bleicher als bleich.
»Unprofessionell?« fragte er milde. »Wir?«
Er ballte seine Hand zu einer Faust, die er ziemlich heftig in eine Backsteinmauer rammte. Seine Stimme war jedoch unverändert, als er sagte: »Sir. Darf ich Sie mit gebührendem Respekt daran erinnern, daß Mister Vandemar und meine Wenigkeit Troja niedergebrannt haben? Wir brachten die Schwarze Pest nach Flandern. Unser letzter Auftrag war es, ein ganzes Kloster in der Toskana des sechzehnten Jahrhunderts zu Tode zu foltern. Wir sind ausgesprochen professionell.«
Mr. Vandemar, der sich die ganze Zeit damit unterhalten hatte, kleine Frösche zu fangen und auszuprobieren, wie viele davon er sich gleichzeitig in den Mund stopfen konnte, bevor er gezwungen war, zu kauen, sagte mit vollem Mund: »Das hat Spaß gemacht …«
»Was ich damit sagen will?« fragte Mr. Croup, und er schnippte ein imaginäres Stäubchen von seinem abgetragenen schwarzen Anzug, den echten Staub geflissentlich übersehend. »Ich will damit sagen, daß wir Mörder sind. Wir sind Schwerverbrecher. Wir bringen Leute um.«
Er lauschte, dann: »Und was ist mit dem Oberweltler? Warum können wir den nicht töten?« Mr. Croup zuckte, und er spuckte noch einmal aus, und er trat gegen die Wand, während er mit dem rostfleckigen, ramponierten Telefon in der Hand dastand.
»Ihr Angst einjagen? Wir sind Mörder, keine Vogelscheuchen. « Eine Pause. Er holte tief Luft. »Ja, ich verstehe, aber es gefällt mir gar nicht.« Doch die Person am anderen Ende der Leitung hatte eingehängt. Mr. Croup blickte auf das Telefon hinunter. Dann nahm er es in die Hand und schlug es systematisch so lange an die Wand, bis nur noch Plastik- und Metalltrümmer davon übrig waren.
Mr. Vandemar ging zu ihm. Er hatte eine große schwarze Nacktschnecke mit leuchtend orangem Bauch gefunden, und er kaute darauf herum wie auf einer Lakritzzigarre. Die Schnecke, die nicht besonders schlau war, versuchte an Mr. Vandemars Kinn herunterzukriechen. »Wer war das?« fragte Mr. Vandemar. »Was zum Teufel glauben Sie, wer das war?« Mr. Vandemar kaute nachdenklich und sog die Schnecke dann in den Mund, wie einen Strang dicker, klebriger, schwarzoranger Spaghetti. »Ein Vogelscheuchenmann?« fragte er.
»Unser Arbeitgeber.«
»Das wäre mein nächster Versuch gewesen.«
»Vogelscheuchen«, spuckte Mr. Croup angewidert. Seine rote Rage verwandelte sich langsam in ein öliggraues Schmollen.
Mr. Vandemar schluckte das, was er im Mund hatte, hinunter und wischte sich die Lippen am Ärmel ab. »Am besten verscheucht man Vögel«, sagte Mr. Vandemar, »indem man sich von hinten anschleicht, die Hand um ihren kleinen Vogelhals legt und so lange zudrückt, bis sie sich nicht mehr bewegen. Dann kriegen sie eine Mordsangst. «
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