Sie öffnete es: ein brauner Papierfetzen mit einer spinnenhaften schwarzen Handschrift darauf.
Sie las es und nickte. »Danke«, sagte sie zu der Ratte. »Für alles, was du getan hast.«
Die Ratte sprang auf die Couch hinunter, funkelte Richard kurz an, und dann war sie im Schatten verschwunden.
Das Mädchen namens Door reichte Richard den Zettel. »Hier«, sagte sie. »Lies das.«
Es war später Nachmittag in Central London, und da der Herbst nahte, war es schon fast dunkel. Richard hatte die U-Bahn zur Tottenham Court Road genommen und ging jetzt die Oxford Street in westlicher Richtung hinunter, das Stück Papier in der Hand.
»Das ist eine Nachricht«, sagte sie, als sie sie ihm gab. »Vom Marquis de Carabas.«
Richard war sicher, daß er den Namen schon mal gehört hatte. »Wie hübsch«, sagte er. »Hatte wohl keine Postkarten mehr?«
»So geht’s schneller.«
Er ging vorbei an den Lichtern des Virgin Megastore, an dem Geschäft, das Londoner Polizeihelme und kleine rote Londoner Busse als Souvenirs verkaufte, und an dem Laden, in dem man die Pizza stückweise bekam, und dann bog er rechts ab …
»Du mußt genau das tun, was hier steht. Paß auf, daß dir keiner folgt.« Dann seufzte sie und sagte: »Ich sollte dich da wirklich nicht so tief mit hineinziehen.«
»Wenn ich diese Anweisungen befolge … kannst du dann schneller wieder von hier verschwinden?«
»Ja.«
In die Hanway Street, eine enge, dunkle Straße voller trübseliger Plattenläden und geschlossener Restaurants. Nur aus den verschwiegenen Saufclubs in den oberen Stockwerken der Gebäude drang Licht. Er ging weiter.
»› … nach rechts in die Hanway Street, links in den Hanway Place, und dann wieder rechts in die Orme Passage. An der ersten Straßenlaterne stehenbleiben …‹ Bist du sicher, daß das stimmt?«
»Ja.«
Er konnte sich an keine Orme Passage erinnern, obwohl er schon mal am Hanway Place gewesen war. Es gab da ein indisches Kellerrestaurant, in das Garry-vonder-Arbeit gern ging. Soweit Richard sich erinnern konnte, war der Hanway Place eine Sackgasse.
The Mandeer: Das war das Restaurant. Er ging an der Eingangstür und den einladend zu ihr hinunterführenden Stufen vorbei, und dann bog er links ab …
Er hatte sich getäuscht. Es gab eine Orme Passage. Da war das Straßenschild.
ORME PASSAGE W1
Kein Wunder, daß er sie bislang nicht bemerkt hatte: Es war kaum mehr als ein kleine Gasse zwischen den Häusern, beleuchtet von einer spuckenden Gaslaterne.
Davon gibt’s auch nicht mehr viele, dachte Richard, und er hielt seine Anweisungen ins Gaslicht, um sie zu entziffern.
»›Dann dreh dich dreimal widersinns‹?«
»Widersinns heißt gegen den Uhrzeigersinn, Richard.«
Er drehte sich dreimal und kam sich blöd dabei vor.
»Hör mal, muß ich das wirklich alles machen, nur um deinen Freund zu treffen? Ich meine, dieser ganze Unsinn …«
»Das ist kein Unsinn. Im Ernst. Tu mir doch einfach den Gefallen, ja?«
Und sie hatte ihn angelächelt.
Er hörte auf, sich zu drehen. Dann ging er die Gasse bis ans Ende hinunter. Nichts. Eine metallene Mülltonne, und daneben etwas, das aussah wie ein Haufen Lumpen.
»Hallo?« rief Richard. »Ist da jemand? Ich bin ein Freund von Door. Hallo?«
Nichts. Es war niemand da.
Richard war ziemlich erleichtert. Jetzt würde er nach Hause gehen und dem Mädchen erklären, daß nichts passiert war. Dann würde er die zuständigen Behörden anrufen, und sie würden sich um alles kümmern.
Er zerknüllte den Zettel zu einer festen Kugel und zielte damit auf die Mülltonne.
Was Richard für einen Lumpenhaufen gehalten hatte, entfaltete sich, breitete sich aus und erhob sich in einer einzigen fließenden Bewegung, und eine Hand fing das zerknüllte Papier mitten im Flug auf.
»Meins, glaube ich«, sagte der Marquis de Carabas.
Er trug einen riesigen Trenchcoat, lange schwarze Stiefel und ziemlich zerlumpte Kleider. Seine Augen brannten weiß in einem dunklen Gesicht. Und für einen Augenblick entblößte er grinsend seine weißen Zähne, als hätte er einen Witz gemacht, den nur er verstand, verneigte sich vor Richard und sagte: »De Carabas, zu Ihren Diensten, und wer sind Sie?«
»Ähm«, sagte Richard. »Öh. Ähm.«
»Sie sind Richard Mayhew, der junge Mann, der unsere verletzte Door gerettet hat. Wie geht es ihr jetzt?«
»Ah. Ganz gut. Ihr Arm ist noch ein bißchen – «
»Zweifellos wird es uns alle erstaunen, wie schnell sie genesen wird. Ihre Familie hatte bemerkenswerte Selbstheilungskräfte. Es ist ein Wunder, daß es überhaupt jemandem gelungen ist, sie alle umzubringen, nicht wahr?« Der Mann, der sich Marquis de Carabas nannte, ging rastlos in der Gasse auf und ab. Er war ständig in Bewegung.
»Jemand hat Doors Familie umgebracht?« fragte Richard.
»Wir werden nicht besonders weit kommen, wenn Sie weiterhin alles wiederholen, was ich sage, oder?« sagte der Marquis, der jetzt vor Richard stand. »Setzen Sie sich«, befahl er. Richard sah sich in der Gasse nach einer Sitzgelegenheit um. Der Marquis legte ihm eine Hand auf die Schulter, und schon lag er platt auf dem Kopfsteinpflaster.
»Sie weiß, daß ich nicht billig bin. Was bietet sie mir denn?«
»Bitte?«
»Was springt für mich dabei heraus? Sie hat Sie als Unterhändler hergeschickt, junger Mann. Ich bin nicht billig, und zu verschenken habe ich erst recht nichts.«
Richard zuckte mit den Schultern, so gut er das im Liegen eben konnte. »Ich soll Ihnen sagen, sie möchte, daß Sie sie nach Hause begleiten – wo auch immer das sein mag – und ihr einen Leibwächter besorgen.«
Selbst wenn der Marquis stehenblieb, waren seine Augen noch unaufhörlich in Bewegung. Nach oben, nach unten, nach links und nach rechts, als ob er nach etwas suchte, über etwas nachdachte. Addierte, subtrahierte, kalkulierte.
Richard fragte sich, ob dieser Mann noch ganz bei Trost war.
»Und was bietet sie mir?«
»Na ja. Nichts.«
Der Marquis hauchte seine Fingernägel an und polierte sie an seinem Mantelkragen. Dann wandte er sich ab. »Sie bietet mir. Nichts.« Er hörte sich beleidigt an.
Richard rappelte sich wieder auf. »Also, von Geld hat sie nichts gesagt. Sie meinte nur, sie würde Ihnen dann einen Gefallen schulden.«
Die Augen blitzten. »Was denn für einen Gefallen?«
»Einen wirklich großen«, sagte Richard. »Sie meinte, sie würde Ihnen einen wirklich großen Gefallen schulden.«
De Carabas grinste wie ein Tiger, der ein verirrtes Bauernkind erblickt. Dann wandte er sich Richard zu. »Und Sie haben sie allein gelassen?« fragte er. »Obwohl Croup und Vandemar dort draußen unterwegs sind? Also, worauf warten Sie noch?«
Er kniete nieder und nahm einen kleinen Metallgegenstand aus einer Tasche. Er steckte ihn in einen Schachtdeckel am Rand der Gasse und drehte ihn. Der Schachtdeckel ging ganz leicht auf; der Marquis steckte den Metallgegenstand wieder weg und zog etwas aus einer anderen Tasche, das Richard ein wenig an einen langen Feuerwerkskörper oder eine Fackel erinnerte.
Er fuhr mit der Hand daran entlang, und aus einem Ende schlug eine scharlachrote Flamme.
»Darf ich etwas fragen?« fragte Richard.
»Aber nein«, sagte der Marquis. »Sie stellen keine Fragen. Sie bekommen keine Antworten. Sie weichen nicht vom Wege ab. Sie denken noch nicht einmal über das nach, was Sie hier gerade erleben. Verstanden?«
»Aber – «
»Am wichtigsten: Kein Aber. Nun denn: Ein Fräulein in Not wartet auf unsere Hilfe«, sagte de Carabas. »Und es gilt keine Zeit zu verlieren. Bewegen Sie sich!«
Richard bewegte sich: Er kletterte die metallene Leiter hinab, die unter dem Kanalschacht in die Wand eingelassen war, und hatte mittlerweile dermaßen den Boden unter den Füßen verloren, daß er ein Bathyskaph gebraucht hätte, um wieder bis an die Oberfläche sehen zu können.
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