Der Junge Bulle knurrte, als der erste Bruder starb. Sein Todesschmerz durchfuhr auch ihn. Aber die anderen zogen den Kreis enger. Mehr und mehr Brüder und Schwestern starben, doch ihre zuschnappenden Gebisse zerrten den Ungeborenen zu Boden. Er biß jetzt selbst zurück, zerriß Wolfskehlen, kratzte mit Fingernägeln, die durch Haut und Fleisch fetzten wie die harten Klauen, die die Zweibeiner trugen, doch die Brüder zerrissen ihn selbst im Todeskampf. Schließlich erhob sich eine einsame Schwester aus dem zuckenden Haufen und taumelte zur Seite. Morgennebel nannte man sie, doch wie bei all ihren Namen schloß das noch weitere Bedeutungen mit ein: ein eisiger Morgen, der den kommenden Schnee bereits fühlen ließ, Nebel, der das Tal in dichten Schwaden verhüllte, und eine scharfe Brise, die gute Jagd versprach. Morgennebel hob den Kopf und heulte den von Wolken verdeckten Mond an, heulte ihm ihre Totenklage entgegen.
Der Junge Bulle legte den Kopf in den Nacken und heulte mit ihr, trauerte mit ihr.
Als er den Kopf wieder senkte, starrte ihn Min mit großen Augen an. »Geht es dir gut, Perrin?« fragte sie zögernd. Sie hatte eine Schramme auf der Wange, und ein Ärmel ihres Mantels hing halb ausgerissen herunter. In einer Hand trug sie einen Knüppel und in der anderen einen Dolch. Auf beiden bemerkte er Blut und Haare.
Er sah, daß sie ihn alle anblickten, jedenfalls alle, die noch auf den Beinen waren. Loial stützte sich erschöpft auf seinen langen Stock. Schienarer hatten kurz ihre Arbeit unterbrochen, die Gefallenen hinunter zu Moiraine zu tragen, die mit Lan zur Seite über einen von ihnen gebeugt dastand. Selbst die Aes Sedai blickte zu ihm herüber. Die brennenden Bäume warfen wie riesige Fackeln ein unruhig flackerndes Licht über die Szenerie. Überall lagen tote Trollocs. Mehr Schienarer lagen auf dem Boden als noch auf den Beinen waren, und zwischen ihnen verstreut lagen die Körper seiner Brüder. So viele...
Perrin fühlte erneut den Drang zu heulen. Verzweifelt schottete er sich von den Wölfen ab. Bilder sickerten trotzdem noch durch, Gefühle, die er von sich abzuhalten versuchte. Schließlich aber konnte er sie nicht mehr spüren, keinen Schmerz mehr, keinen Zorn, keinen Drang, die Entstellten weiter zu jagen oder einfach zu rennen... Er schüttelte sich. Die Wunde an seinem Rücken brannte wie Feuer, und seine verletzte Schulter fühlte sich an, als sei sie mit einem Hammer auf dem Amboß weichgeklopft worden. Seine bloßen Füße, verkratzt und verschrammt, pulsierten vor Schmerz. Überall lag der Geruch nach Blut in der Luft, nach Trollocs und Tod.
»Mir... mir geht's schon wieder gut, Min.«
»Du hast gut gekämpft, Schmied«, sagte Lan. Der Behüter erhob sein bluttriefendes Schwert und rief: »Tai'shar Manetheren! Tai'shar Andor!« Das wahre Blut von Manetheren. Das wahre Blut von Andor.
Die Schienarer, die noch auf den Beinen waren — so wenige —, hoben ihre Schwerter und schlossen sich ihm an: »Tai'shar Manetheren! Tai'shar Andor!« Loial nickte. »Ta'veren«, fügte er hinzu.
Perrin schlug verlegen die Augen nieder. Lan hatte ihn vor den Fragen bewahrt, die er nicht beantworten wollte, aber dafür hatte er ihm eine unverdiente Ehre zuteil werden lassen. Die anderen verstanden das nicht. Er fragte sich, was sie wohl sagen würden, wenn sie die Wahrheit wüßten. Min schob sich näher heran, und er murmelte: »Leya ist tot. Ich konnte nicht... ich hätte sie beinahe noch rechtzeitig erreicht.«
»Es hätte keinen Unterschied gemacht«, sagte sie leise. »Das weißt du doch.« Sie beugte sich vor und betrachtete seinen Rücken. Selbst sie zuckte dabei zusammen. »Moiraine wird sich darum kümmern. Sie heilt alle, denen sie noch helfen kann.«
Perrin nickte. Sein Rücken starrte bis zur Taille hinunter vor angetrocknetem Blut, doch trotz der Schmerzen bemerkte er das alles kaum. Licht, diesmal wäre ich beinahe nicht mehr zurückgekommen. Das darf nicht mehr passieren. Nie mehr! Aber wenn er im Geist bei den Wölfen war, war alles so anders. Er mußte sich keine Gedanken mehr über Fremde machen, die vor ihm Angst hatten, weil er so groß und kräftig war. Man glaubte nicht, er sei dumm, weil er sich Zeit zum Überlegen nahm. Die Wölfe kannten einander, auch wenn sie sich noch nie zuvor gesehen hatten, und für sie war er lediglich ein anderer Wolf.
Nein! Seine Hände verkrampften sich um den Schaft der Axt. Nein! Er fuhr zusammen, als Masema plötzlich etwas sagte: »Es war ein Zeichen«, stellte der Schienarer fest. Er drehte sich im Kreis herum, weil er alle ansprechen wollte. Auf seinen Armen und seiner Brust klebte ebenfalls Blut — er hatte nur Hosen angehabt —, und er hinkte, doch seine Augen leuchteten so leidenschaftlich wie immer. Noch leidenschaftlicher. »Ein Zeichen, um unseren Glauben zu bestätigen. Selbst die Wölfe kamen, um für den Wiedergeborenen Drachen zu kämpfen. In der Letzten Schlacht wird der Drache sogar die Tiere des Waldes herbeirufen, um an unserer Seite zu streiten. Es ist ein Zeichen für uns, auszureiten. Nur Schattenfreunde werden sich uns nicht anschließen.« Zwei der Schienarer nickten.
»Halt dein blutiges Maul, Masema!« schimpfte Uno. Er schien völlig unverletzt, aber Uno hatte schließlich auch schon gegen Trollocs gekämpft, bevor Perrin geboren wurde. Doch man sah, daß er vor Erschöpfung wankte. Nur das aufgemalte Auge auf seiner Augenklappe schien frisch. »Wir werden verdammt noch mal ausreiten, wenn der Drache uns das verflucht noch mal sagt, und nicht eher! Ihr schafsköpfigen Bauern werdet euch, Licht noch mal, daran erinnern!« Der Einäugige blickte die wachsende Reihe von Männern an, die sich von Moiraine behandeln lassen wollten. Nur wenige konnten sich überhaupt aufsetzen, selbst nach ihrer Behandlung. Er schüttelte den Kopf. »Wenigstens haben wir verdammt genug Wolfspelze, um die Verwundeten warmzuhalten.«
»Nein!« Die Schienarer schienen überrascht, mit welcher Vehemenz Perrin das herausschrie. »Sie haben für uns gekämpft, und wir begraben sie zusammen mit unseren Toten.«
Uno runzelte die Stirn und öffnete den Mund, als wolle er etwas entgegnen, aber Perrin sah ihn durchdringend mit seinen gelben Augen an. Der Schienarer senkte den Blick zuerst und nickte.
Perrin räusperte sich verlegen, als Uno den Schienarern, die noch gut genug auf den Beinen waren, die Anweisung gab, die toten Wölfe zusammenzutragen. Min kniff die Augen zusammen und sah ihn an, als sehe sie Dinge um ihn herum, die er nicht wahrnehmen konnte. »Wo ist Rand?« fragte er sie.
»Draußen im Dunklen«, sagte sie und nickte in Richtung nach oben, ohne von ihm wegzublicken. »Er will mit niemandem sprechen. Er sitzt nur herum und faucht jeden an, der sich ihm nähert.«
»Mit mir wird er sprechen«, sagte Perrin. Sie folgte ihm und drang auf ihn ein, er müsse erst seine Verwundungen von Moiraine behandeln lassen. Licht, was sieht sie, wenn sie mich so anblickt? Ich will es lieber nicht wissen.
Rand saß auf dem Boden gerade außerhalb des Lichtscheins der brennenden Bäume und lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm einer abgebrochenen Eiche. Er blickte ins Leere und hatte die Arme um seinen Oberkörper geschlungen und die Hände unter den roten Mantel gesteckt, als fühle er den Biß der Kälte. Er schien ihr Näherkommen nicht zu bemerken. Min setzte sich neben ihn, aber er rührte sich nicht, selbst als sie ihm eine Hand auf den Arm legte. Selbst hier roch Perrin Blut und nicht nur sein eigenes.
»Rand«, fing Perrin an, aber Rand ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Weißt du, was ich während des Kampfes gemacht habe?« Rand blickte immer noch ins Leere und richtete seine Worte an die Nacht. »Nichts! Nichts Nützliches! Zuerst habe ich die Wahre Quelle zu berühren versucht und konnte nicht, konnte sie nicht fassen. Sie ist mir immer wieder entglitten. Dann, als ich sie schließlich im Griff hatte, wollte ich sie alle verbrennen, die Trollocs und die Blassen. Aber alles, was ich fertigbrachte, war, ein paar Bäume in Brand zu setzen.« Er schüttelte sich in lautlosem Lachen und beruhigte sich dann wieder mit schmerzvoll verzogenem Gesicht. »Saidin erfüllte mich, bis ich glaubte, wie ein Feuerwerkskörper explodieren zu müssen. Ich mußte es irgendwohin ableiten, es loswerden, bevor es mich verbrannte, und ich ertappte mich dabei, daß ich überlegte, den Berg herabstürzen zu lassen, um die Trollocs darunter zu begraben. Beinahe hätte ich es versucht. Das war mein ganzer Kampf. Nicht gegen die Trollocs. Gegen mich selbst. Um mich davon abzuhalten, uns alle unter einem Berg zu begraben.«
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