Einen Augenblick lang lag Perrin nur da und rang nach Luft. Der Schnitt auf seinem Rücken brannte, und er fühlte die Nässe von Blut. Ein stechender Schmerz durchfuhr seine Schulter, als er sich aufrichtete. »Leya?«
Sie war immer noch da, kauerte vor der Hütte, nicht mehr als zehn Schritt weiter oben. Und sie betrachtete ihn mit einem solchen Gesichtsausdruck, daß er ihr kaum in die Augen sehen konnte. »Bemitleidet mich nicht!« grollte er. »Habt Ihr...!«
Der Sprung des Myrddraals vom Dach der Hütte herunter schien viel zu lang zu dauern, und sein stumpfschwarzer Umhang hing während des Falls um ihn, als stünde der Halbmensch bereits auf dem Boden. Sein augenloser Blick war auf Perrin gerichtet. Er roch nach Tod.
Kälte sickerte in Perrins Arme und Beine, als ihn der Myrddraal ansah. Sein Brustkorb war wie ein Eisklumpen. »Leya«, flüsterte er. Er konnte sich nur mit Mühe beherrschen, nicht davonzurennen. »Leya, versteckt Euch bitte. Bitte.«
Der Halbmensch ging langsam und selbstbewußt auf ihn zu, sicher, daß er vor Furcht gelähmt sei. Er bewegte sich schlangengleich und zog dabei ein Schwert, so schwarz, daß es nur durch die brennenden Bäume sichtbar gemacht wurde. »Trennt ein Bein eines dreibeinigen Hockers ab«, sagte er leise, »und alle fallen herunter.« Die Stimme klang wie zerfallendes, verrottetes Leder.
Plötzlich bewegte sich Leya. Sie warf sich nach vorn und versuchte, die Beine des Myrddraals mit ihren Armen zu umschlingen. Er schwang beinahe gleichgültig das dunkle Schwert rückwärts, ohne sich dabei auch nur umzublicken, und sie brach zusammen.
Tränen traten Perrin in die Augen. Ich hätte ihr helfen müssen... sie retten. Ich hätte... etwas... tun müssen! Aber solange ihn der Myrddraal mit seinem augenlosen Blick fixierte, war es schwer, auch nur zu denken.
Wir kommen, Bruder. Wir kommen, Junger Bulle.
Die Worte in seinem Kopf ließen diesen wie eine Glocke klingen. Die Schwingungen durchzitterten ihn. Mit den Worten kamen die Wölfe, ganze Rudel, und sie überfluteten seinen Geist, wie sie in die Talmulde fluteten. Bergwölfe, so groß, daß sie einem Mann bis an die Hüfte reichten, alle weiß und grau, so hetzten sie aus der Nacht heraus, um die Überraschung der Zweibeiner wohl wissend, als sie sich auf die Entstellten stürzten. Die Wölfe erfüllten ihn, bis er sich kaum noch daran erinnern konnte, ein Mensch zu sein. In seinen Augen sammelte sich das Licht, und sie leuchteten golden. Und der Halbmensch blieb mit einem Mal unsicher stehen.
»Blasser«, sagte Perrin grob, aber dann kam ihm ein anderer Name in den Sinn, der von den Wölfen stammte. Trollocs, die Entstellten, die während des Schattenkriegs aus einer Kreuzung von Mensch und Tier erschaffen worden waren, waren schlimm genug, doch die Myrddraal... »Ungeborener!« Der Junge Bulle spuckte aus. Mit gefletschten Zähnen stürzte er sich knurrend auf den Myrddraal.
Der bewegte sich elegant und tödlich wie eine Viper. Das schwarze Schwert war schnell wie der Blitz. Aber er war der Junge Bulle. So nannten ihn die Wölfe. Der Junge Bulle mit Hörnern aus Stahl, die er mit seinen Händen führte. Er war eins mit den Wölfen. Er war ein Wolf, und jeder Wolf würde mit Freude sterben, wenn er einen der Ungeborenen dadurch zu Fall bringen konnte. Der Blasse wich vor ihm zurück. Seine pfeilschnellen Schläge wurden nun zur Abwehr vor Perrins Axthieben.
Kniesehne und Kehle, das waren die Angriffsziele der Wölfe. Der Junge Bulle warf sich plötzlich zur Seite und fiel auf ein Knie nieder. Seine Axt schnitt quer über die Kniekehle des Halbmenschen. Der schrie — ein bis ins Mark durchdringender Schrei, der ihm zu jeder anderen Zeit die Haare zu Berge stehen lassen hätte —, stürzte und fing sich mit einer Hand ab. Der Halbmensch — der Ungeborene — hielt sein Schwert noch fest in der Hand, aber bevor er sich aufrappeln konnte, schlug die Axt des Jungen Bullen erneut zu. Halb abgehackt fiel der Kopf des Myrddraal nach hinten und hing ihm den Rücken hinab. Doch immer noch stützte sich der Ungeborene auf eine Hand, und sein Schwert durchschnitt wild die Luft. Die Ungeborenen brauchten lange, um zu sterben.
Durch die Augen der Wölfe und zugleich durch seine eigenen sah der Junge Bulle Bilder von Trollocs, die sich kreischend auf dem Boden wälzten, ohne von Mensch oder Wolf berührt worden zu sein. Die waren offensichtlich mit diesem Myrddraal verbunden und würden sterben, wenn er starb, falls niemand anders sie vorher tötete. Der Drang, den Hang hinunterzurennen und sich seinen Brüdern anzuschließen, mit ihnen zusammen die Entstellten und die verbliebenen Ungeborenen zu töten, war stark, aber das tief vergrabene Stück Mensch in seinem Innern erinnerte sich. Leya.
Er ließ seine Axt fallen und drehte sie sanft herum. Blut strömte über ihr Gesicht, und ihre Augen starrten ihn glasig und tot an. Es schien ihm ein anklagender Blick. »Ich habe es versucht«, sagte er ihr. »Ich habe versucht, Euch zu retten.« Ihr Blick veränderte sich nicht. »Was hätte ich sonst tun können? Er hätte Euch getötet, hätte ich ihn nicht vorher umgebracht!«
Komm, Junger Bulle. Komm, töten wir die Entstellten!
Der Wolf überrollte ihn, hüllte ihn vollständig ein. Perrin ließ Leya zu Boden sinken und nahm seine Axt. Die Schneide glänzte feucht. Seine Augen leuchteten, als er den steinigen Abhang hinunterstürmte. Er war der Junge Bulle.
Die um die Talmulde herum verstreuten Bäume brannten wie Fackeln. Gerade, als der Junge Bulle ins Getümmel eintauchte, brach eine hohe Kiefer in Flammen aus. Die Nachtluft flimmerte in fahlem Blau wie unter Nordlichtern, als Lan auf einen weiteren Myrddraal traf. Die uralte, von Aes Sedai hergestellte Klinge prallte auf den schwarzen Stahl, der in Thakan'dar, im Schatten des Shayol Ghul, hergestellt wird. Loial benützte einen Kampfstock von der Größe eines Zaunpfahls. Der herumwirbelnde Balken schuf einen Freiraum um ihn, den kein Trolloc betreten konnte, ohne getroffen niederzustürzen. In den tanzenden Schatten fochten Männer einen verzweifelten Kampf, aber der Junge Bulle — Perrin — nahm verschwommen wahr, daß bereits zu viele der schienarischen Zweibeiner auf dem Boden lagen.
Die Brüder und Schwestern kämpften in kleinen Rudeln zu dritt oder zu viert, duckten sich unter Sichelschwertern und Dornenäxten hinweg, zerfetzten mit ihren mächtigen Kiefern Kniekehlen und sprangen hoch, wenn ihre Beute stürzte, um ihnen die Kehlen durchzubeißen. Es lag keine Ehre in dieser Art zu kämpfen, kein Ruhm, keine Gnade. Sie waren nicht zum Kämpfen gekommen, sondern um zu töten. Der Junge Bulle schloß sich einem der kleineren Rudel an, und die Schneide seiner Axt ersetzte ihm die Zähne.
Er hatte nicht mehr den gesamten Kampf im Auge. Es gab nur den Trolloc, ihn und die Wölfe — die Brüder —, und der Trolloc wurde von seinen Genossen abgeschnitten und zur Strecke gebracht. Dann gab es einen neuen und wieder einen und noch einen, bis keine mehr übrig waren. Keiner in ihrer Nähe; überhaupt keiner mehr zu sehen. Er fühlte in sich den Drang, seine Axt wegzuschleudern, die Zähne zu benützen und auf allen vieren zu rennen wie seine Brüder. Über die hohen Pässe in den verschneiten Bergen rennen. Bis zum Bauch im pulvrigen Schnee rennen und einen Hirsch verfolgen. Mit dem kalten Wind rennen, der einem das Fell zerzauste. Er knurrte wie seine Brüder, und die Trollocs heulten vor Furcht, wenn der Blick aus seinen gelben Augen sie traf. Sie fürchteten ihn mehr als die anderen Wölfe.
Mit einem Mal wurde ihm bewußt, daß sich in der gesamten Mulde keine Trollocs mehr befanden, obwohl er fühlen konnte, daß seine Brüder noch einige auf der Flucht verfolgten. Ein Rudel von sieben hatte eine andere Beute im Auge, irgendwo dort draußen in der Dunkelheit. Einer der Ungeborenen rannte zu seinem hartfüßigen Vierbein — etwas in seinem Innern gab ihm den Namen Pferd —, und seine Brüder folgten ihm, seine Witterung in der Nase: den Geruch des Todes. Im Geist war er bei ihnen und sah durch ihre Augen. Als sie ihn einkreisten, wandte sich der Ungeborene ihnen fluchend zu. Die schwarze Klinge und der schwarzgekleidete Ungeborene waren wie ein Teil der Nacht. Aber seine Brüder und Schwestern waren die Jäger der Nacht.
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