Mat hatte von Beginn an versucht, ein Wort einzuwerfen, und nun sagte er schnell: »Von ihr ist der Brief ja, Mann! Er ist von... «
»Habe ich Euch nicht gesagt, Ihr sollt Euch trollen, Schurke?« brüllte der fette Mann. Sein Gesicht färbte sich beinahe so rot wie sein Mantel. »Hebt Euch fort aus meinen Augen, Ihr Gossenunrat! Wenn Ihr nicht weg seid, bis ich auf zehn gezählt habe, werde ich Euch verhaften, weil Ihr den Platz mit Eurer Anwesenheit verunreinigt! Eins! Zwei!«
»Könnt Ihr wirklich bis zehn zählen, Ihr fetter Narr?« fauchte Mat. »Ich sage Euch, Elayne hat... «
»Wachen!« Jetzt war das Gesicht des Offiziers purpurrot. »Verhaftet diesen Mann als Schattenfreund!«
Mat zögerte einen Moment lang, da er glaubte, so etwas könne ja wohl niemand ernst nehmen, aber die gesamte Wache, ein Dutzend Männer in roten Röcken, Brustpanzern und Helmen, rannte auf ihn zu, und so riß er sein Pferd herum und galoppierte davon, die empörten Schreie des fetten Mannes im Ohr. Der Hengst war zwar kein Rennpferd, aber die Männer zu Fuß ließ er dennoch schnell hinter sich. Leute sprangen zur Seite, als er die gewundene Straße hinabjagte, und sie drohten ihm mit geballten Fäusten und mit ebensolchen Flüchen wie der Offizier zuvor.
Narr, dachte er und meinte damit den fetten Offizier, aber dann bedachte er sich selbst mit dem gleichen Wort. Alles, was ich hätte tun müssen, war, ihren blutigen Namen gleich von Anfang an zu erwähnen. »Elayne, Tochter-Erbin von Andor, schickt diesen Brief an ihre Mutter, Königin Morgase.« Licht, wer konnte vorhersehen, daß sie Tar Valon auf einmal so feindselig gegenüberstehen? Wie er sich von seinem letzten Besuch her erinnerte, waren die Aes Sedai und die Weiße Burg in der Wertschätzung der Wachsoldaten gleich nach Königin Morgase gekommen. Seng sie, Elayne hätte mir das sagen können. Zögernd fügte er hinzu: Ich hätte auch ein paar Fragen stellen können.
Bevor er das Bogentor zur Neustadt erreichte, zügelte er seinen Hengst. Er glaubte nicht, daß ihn die Palastwache noch verfolgte, aber es brachte nichts, wenn er die Blicke aller am Tor auf sich zog, indem er im Galopp hindurchpreschte. Jetzt, in gemächlichem Schritt, widmeten sie ihm nicht mehr Aufmerksamkeit als zuvor.
Als er den breiten Torbogen passierte, lächelte er plötzlich und wäre beinahe umgekehrt. Er hatte sich nämlich gerade an etwas erinnert, und diese Vorstellung gefiel ihm bedeutend besser, als einfach durchs Palasttor hineinzuspazieren. Es hätte ihm wohl sogar dann noch besser gefallen, wenn der fette Offizier nicht am Tor auf Wache gestanden hätte. Er verirrte sich zweimal auf der Suche nach ›Der Königin Segen‹, aber schließlich fand er das Schild mit dem Mann, der vor einer Frau mit rotgoldenem Haar und einer Krone aus goldenen Rosen kniete, ihre Hand auf seinem Kopf. Es war ein breiter, dreistöckiger Steinbau mit großen Fenstern bis hinauf unter das rote Ziegeldach. Er ritt hinten herum zum Stallhof, wo ihm ein Bursche mit Pferdegesicht und einer Lederweste, die kaum zäher als seine Haut sein konnte, die Zügel des Pferdes abnahm. Er glaubte, sich an den Burschen erinnern zu können. Ja — Ramey.
»Es ist schon lange her, daß ich hier war, Ramey.« Mat warf ihm eine Silbermark zu. »Erinnert Ihr euch noch an mich?«
»Ich kann nicht sagen, daß ich...«, begann Ramey, aber dann glänzte Silber vor seinen Augen, wo er nur Bronze erwartet hatte. Er hustete, und sein kurzangebundenes Nicken wandelte sich zu einer hastigen Verbeugung mit einer Faust an der Stirn. »Aber natürlich erinnere ich mich, junger Herr. Vergebt mir. Es war mir vollkommen entfallen. Habe kein gutes Gedächtnis für Menschen. Gut für Pferde. Ich kenne Pferde, ja wirklich. Ein schönes Tier, junger Herr. Ich werde es gut pflegen, da könnt Ihr sicher sein.« Er sprudelte all das hastig heraus und gab Mat keine Zeit, selbst etwas einzuwerfen. Dann brachte er schleunigst den Hengst in den Stall, bevor er vielleicht Mats Namen hätte benützen müssen.
Mit saurem Gesichtsausdruck klemmte sich Mat die Rolle mit Feuerwerkskörpern unter den Arm und schulterte den Rest seiner Habseligkeiten. Der Bursche hätte mich nicht von Falkenflügels Zehennägeln unterscheiden können. Neben der Küchentür saß ein massiger, muskelbepackter Mann auf einem umgestülpten Faß und kraulte sanft eine schwarzweiße Katze auf seinem Schoß hinter dem Ohr. Der Mann musterte Mat unter dicken Augenlidern hervor, besonders den Bauernspieß auf dessen Schulter, aber er hörte dabei mit dem Kraulen nicht auf. Mat glaubte, sich auch an ihn erinnern zu können, aber den Namen wußte er nicht mehr. So sagte er nichts, als er hineinging, und der Mann schwieg ebenfalls. Warum sollte er sich an mich erinnern? Möglicherweise kommen jeden Tag Aes Sedai hierher, um jemanden abzuholen.
In der Küche eilten zwei Hilfsköchinnen und drei Küchenmägde zwischen Herden und Bratspießen geschäftig hin und her. Die Anweisungen kamen von einer rundlichen Frau, die ihr Haar zum Dutt zusammengebunden hatte und in der Hand einen langen Holzlöffel hielt, mit dem sie auf das deutete, was sie gerade getan haben wollte. Mat war sicher, daß er sie von damals her kannte. Coline, und welch ein Name für eine so dicke Frau. Aber alle nannten sie nur Köchin.
»Hallo, Köchin«, verkündete er, »ich bin wieder da, und es ist noch kein Jahr her!«
Sie sah ihn einen Moment lang scharf an und nickte dann. »Ich erinnere mich an Euch.« Er begann zu grinsen. »Ihr wart bei dem jungen Prinzen, nicht wahr?« fuhr sie fort. »Der Tigraine so ähnlich sah, das Licht leuchte ihrem Angedenken. Ihr seid sein Diener, nicht wahr? Kommt er denn zurück, der junge Prinz?«
»Nein«, sagte er schroff. Ein Prinz! Licht! »Ich glaube nicht, daß er in nächster Zeit vorbeikommt, und es würde Euch auch nicht gefallen, wenn er käme.« Sie protestierte und beteuerte, was für ein feiner, gutaussehender junger Mann der Prinz sei, doch er ließ gar nicht erst ausreden. Seng mich, gibt es denn eine Frau, die Rands wegen nicht glänzende Augen bekommt, wenn man nur seinen verfluchten Namen erwähnt? Sie würde, verdammt noch mal, schreien, wenn sie wüßte, was er jetzt tut. »Ist Meister Gill in der Nähe? Und Thom Merrilin?«
»In der Bibliothek«, sagte sie leicht schniefend. »Sagt Basel Gill, wenn Ihr ihn seht, daß diese Abflüsse gereinigt werden müssen. Heute noch, hört Ihr?« Sie beobachtete, wie eine der Gehilfinnen irgend etwas mit einem Stück Rinderbraten anstellte, und watschelte zu ihr hinüber. »Nicht soviel, Kind. Das Fleisch wird zu süß, wenn Ihr soviel Arrath daraufgebt.« Sie schien Mat bereits wieder vergessen zu haben.
Er schüttelte den Kopf und machte sich auf die Suche nach der Bibliothek. Er konnte sich nicht an sie erinnern. Aber er erinnerte sich auch nicht daran, ob Coline eigentlich mit Meister Gill verheiratet war. Wenn er jemals vernommen hatte, wie eine Ehefrau ihrem Mann Anweisungen gab, dann jetzt gerade. Eine hübsche Dienerin mit großen Augen kicherte und wies ihn einen Flur hinunter zu einer Tür neben dem Schankraum.
Als er in die Bibliothek eintrat, blieb er erst einmal stehen und staunte. Auf den Wandregalen mußten wohl mehr als dreihundert Bücher stehen und auf den Tischen lagen noch mehr. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nicht so viele Bücher auf einmal gesehen. Er bemerkte ein ledergebundenes Exemplar der Reisen des Jaim Fernstreicher auf einem kleinen Tischchen in der Nähe der Tür. Das hatte er immer schon lesen wollen — Rand und Perrin hatten ihm ständig davon erzählt —, aber er schien niemals dazu zu kommen, die Bücher zu lesen, die ihn interessierten.
Basel Gill mit seinem rosa Gesicht und Thom Merrilin saßen an einem der Tische über einem Spielbrett. Die Pfeifen in ihren Mündern stießen dünnen, blauen Tabaksqualm aus. Eine gestreifte Katze saß auf dem Tisch neben einem hölzernen Würfelbecher, den Schwanz um die Beine gewickelt, und beobachtete sie beim Spielen. Der Umhang des Gauklers war nirgends zu sehen, und so nahm Mat an, daß er bereits ein Zimmer bezogen hatte.
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