Egwene riß den Kopf herum. Männer traten zwischen den Bäumen heraus. Um ihre Köpfe herum wirbelten Steinschleudern. Sie griff nach Saidar, doch etwas traf ihren Kopf, und die Dunkelheit verschlang alles.
Egwene spürte, wie sie schwankte und wie sich unter ihr etwas bewegte. In ihrem Kopf war allerdings nur Raum für Schmerzen. Sie versuchte, eine Hand an ihre Schläfe zu heben, doch etwas schnitt ihr in die Handgelenke und sie konnte sich nicht rühren. »... besser als den ganzen Tag hier herumliegen und auf die Dunkelheit warten«, sagte die grobe Stimme eines Mannes. »Wer weiß, ob nicht ein anderes Schiff nahe am Ufer vorbeikommt? Und ich traue diesem Schiff dort auch nicht. Es hat ein Leck.«
»Du solltest mal besser darauf hoffen, daß Adden dir glaubt, du hättest die Ringe bemerkt, bevor du dich zum Angriff entschlossen hast«, sagte ein anderer Mann. »Er will fette Beute haben und keine Frauen, schätze ich.« Der erste Mann knurrte etwas Unanständiges, was Adden mit seinem alten Kahn tun könne und genauso mit seiner Fracht.
Sie öffnete die Augen. Silber gesprenkelte Flecken tanzten vor ihnen. Sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Der Boden schwankte ein Stück unter ihrem Kopf. Sie war quer über den Rücken eines Pferdes gebunden. Ihre Hand- und Fußgelenke waren mit Seilen gefesselt, die unter dem Bauch des Pferdes durchliefen. Ihr Haar hing hinunter.
Noch herrschte Tageslicht. Sie verdrehte den Hals, um sich umsehen zu können. So viele berittene Männer in grober Kleidung umgaben sie, daß sie nicht sehen konnte, ob Nynaeve und Elayne ebenfalls gefangen waren. Ein paar der Männer trugen Teile von Rüstungen — ein zerbeulter Helm hier, ein eingedellter Brustpanzer oder ein mit Metallscheiben benähtes Lederwams da —, aber die meisten trugen lediglich Mäntel, die wohl einen Monat oder mehr nicht gewaschen worden waren. Vielleicht auch noch nie. Dem Geruch nach zu schließen hatten sich die Männer gleichfalls seit Monaten nicht mehr gewaschen. Sie trugen sämtlich Schwerter auf dem Rücken oder am Gürtel.
Zorn und Furcht überfielen sie, vor allem aber heiße Wut. Ich will keine Gefangene mehr sein! Ich lasse mich nicht fesseln! Niemals! Sie griff nach Saidar, und vor Schmerz wäre ihr fast der Kopf zersprungen. Sie konnte gerade noch ein Stöhnen unterdrücken.
Das Pferd blieb einen Moment stehen. Rufe und das Quietschen rostiger Scharniere ertönten. Dann schritt es ein Stück weiter, und die Männer stiegen von ihren Pferden. Als sie weggingen, konnte sie endlich ein wenig von ihrer Umgebung sehen. Eine aus Baumstämmen gefertigte Palisade umgab sie, die offensichtlich auf einer großen, runden, aus Erde aufgeschütteten Anhöhe stand. Ein hölzerner Wehrgang zog sich innen herum, gerade hoch genug angebracht, daß die mit Bögen ausgerüsteten Wachen über die roh behauenen Stämme hinwegspähen konnten. Eine niedrige, fensterlose Blockhütte schien man direkt in den Erdboden unter der Palisade hineingebaut zu haben. Außer ein paar primitiven Schuppen war kein weiteres Gebäude zu sehen. Von den Männern und Pferden abgesehen, die gerade hereingekommen waren, war der Rest der offenen Fläche übersät mit Feuerstellen, angeleinten Pferden und weiteren ungewaschenen Männern. Es mußten mindestens hundert sein. Ziegen und Schweine und Hühner in Käfigen meckerten, grunzten und gackerten. Dazu kamen das Gelächter und die Rufe der Männer. Alles zusammen ergab einen ohrenbetäubenden Lärm, der ihr noch mehr Kopfschmerzen bereitete.
Ihr Blick fand Nynaeve und Elayne, die genau wie sie mit dem Kopf nach unten auf ungesattelte Pferde gebunden waren. Keine schien sich zu rühren. Das Ende von Nynaeves Zopf schleifte im Schmutz, als sich ihr Pferd bewegte. Eine vage Hoffnung verflog damit, daß eine von ihnen sich in Freiheit befinden und den anderen zur Flucht verhelfen könnte. Licht, ich ertrage es nicht, wieder eine Gefangene zu sein. Nicht schon wieder. Vorsichtig versuchte sie, erneut nach Saidar zu greifen. Diesmal war der Schmerz nicht ganz so schlimm — höchstens so, als habe jemand einen Stein auf ihren Kopf fallen lassen —, aber die Leere zersprang trotzdem, bevor sie auch nur an eine Rose denken konnte.
»Eine von ihnen ist wach!« schrie die verängstigte Stimme eines Mannes.
Egwene bemühte sich, schlaff dazuhängen und harmlos zu wirken. Wie beim Licht kann ich bedrohlich wirken, wenn ich wie ein Sack Mehl zusammengeschnürt dahänge! Seng mich, ich muß Zeit gewinnen. Ich muß! »Ich tue Euch nichts«, sagte sie zu dem Burschen, der mit verschwitztem Gesicht auf sie zurannte. Oder zumindest versuchte sie, ihm das mitzuteilen. Sie war sich nicht im klaren darüber, wieviel davon sie herausgebracht hatte, als schon wieder etwas auf ihren Kopf krachte. Ihr wurde schlecht, und eine Welle der Dunkelheit überrollte sie.
Beim nächsten Mal war das Erwachen leichter. Ihr Kopf schmerzte noch, aber nicht so stark wie zuvor. Nur ihre Gedanken wirbelten noch hilflos durcheinander. Wenigstens ist mein Magen nicht... Licht, besser, ich denke nicht an so was! Sie hatte den Geschmack sauren Weines und dazu etwas Bitteres im Mund. Dünne Streifen von Laternenschein fielen durch waagrechte Spalten in einer roh zusammengezimmerten Holzwand, aber sie lag drinnen auf dem Rücken in der Dunkelheit. Auf dem Erdboden, wie sie zu spüren glaubte. Die Tür schien auch nicht gerade gut eingepaßt, sah aber leider stabil aus.
Sie schob sich etwas hoch, so daß sie auf Händen und Knien ruhte, und dann war sie überrascht darüber, daß man sie überhaupt nicht gefesselt hatte. Die anderen Wände außer der aus ungeschältem Holz waren aus rohem Stein gebaut. Das durch die Ritzen fallende Licht reichte aus, um Nynaeve und Elayne zu erkennen, die hilflos im Schmutz lagen. Auf dem Gesicht der Tochter-Erbin klebte Blut. Sie rührten sich nicht. Nur ihre Oberkörper hoben und senkten sich leicht beim Atmen. Egwene zögerte. Sollte sie die beiden sofort wecken oder lieber erst nachsehen, was sich auf der anderen Seite der Wand befand? Nur ein kurzer Blick, sagte sie sich. Ich kann genausogut erstmal sehen, was uns da bewacht, bevor ich sie aufwecke.
Sie redete sich ein, es sei nicht deswegen, weil sie fürchtete, gar nicht in der Lage zu sein, sie aufzuwecken. Als sie ein Auge an eine der Ritzen in der Nähe der Tür preßte, dachte sie an das Blut auf Elaynes Gesicht und bemühte sich, sich genau daran zu erinnern, was Nynaeve im Falle Dailins getan hatte.
Der angrenzende Raum war groß — er mußte die ganze übrige Fläche des Blockhauses einnehmen, das sie gesehen hatte — und fensterlos. Goldene und silberne Lampen hingen an Wandhaken und an den Balken der hohen Decke und erleuchteten den Raum strahlend hell. Es gab keinen Kamin. Auf dem blanken Erdboden mischten sich Tische und Stühle aus Bauernhäusern mit vergoldeten und mit Elfenbein eingelegten Schatztruhen. Ein mit Pfauenmuster geschmückter Webteppich lag neben einem riesigen Himmelbett, das reichlich mit schmutzigen Decken und Kissen gepolstert war. Die Bettpfosten waren mit feinen, vergoldeten Schnitzereien bedeckt.
Ein Dutzend Männer saß oder stand im Raum herum, doch aller Augen waren auf einen hochgewachsenen, blonden Mann gerichtet, der sicher mit gewaschenem Gesicht gut ausgesehen hätte. Er stand mit einer Hand am Griff seines Schwertes über einem Tisch mit geschwungenen Beinen und vergoldeten eingelegten Runen. Ein Finger der anderen Hand schob etwas, das sie nicht sehen konnte, in kleinen Kreisbewegungen auf der Tischfläche umher.
Die Haustür öffnete sich. Die Nacht zeigte sich in der Öffnung, und dann trat ein schlaksiger Mann ein, dem das linke Ohr fehlte. »Er ist noch nicht gekommen«, sagte er grob. An seiner linken Hand fehlten auch zwei Finger. »Ich habe nicht gern mit denen zu tun.«
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