Während sie auf die Bäume und Büsche zuschritten, beobachteten die Aiel das sie umgebende Land so aufmerksam, als befürchteten sie, es könnten sich Feind dort befinden, die genauso gut im Verbergen waren wie sie selbst. Aviendha schritt voran, und Nynaeve hielt mit ihr Schritt.
»Ich bin Elayne aus dem Hause Trakand«, sagte Egwenes Freundin, als wolle sie eben Konversation machen. »Tochter-Erbin von Morgase, der Königin von Andor.«
Egwene kam ins Stolpern. Licht, spinnt sie denn? Ich weiß, daß Andor im Aiel-Krieg gegen sie kämpfte. Das ist vielleicht zwanzig Jahre her, aber man sagt, die Aiel hätten ein sehr gutes Gedächtnis für so etwas.
Doch die flammenhaarige Aiel neben ihr sagte nur: »Ich bin Bain aus der Schwarzfelsen-Septime der Shaarad Aiel.«
»Ich heiße Chiad«, sagte die kleinere Frau mit dem helleren Haar auf der anderen Seite. »Ich komme von der Steinfluß-Septime der Goschien Aiel.«
Bain und Chiad blickten Egwene an. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber Egwene hatte das Gefühl, sie würfen ihr insgeheim schlechte Manieren vor.
»Ich heiße Egwene al'Vere«, sagte sie also zu ihnen. Da sie mehr zu erwarten schienen, fügte sie hinzu: »Tochter der Marin al'Vere aus Emondsfeld im Gebiet der Zwei Flüsse.« Damit schienen sie sich auf gewisse Weise zufriedenzugeben, aber sie hätte wetten können, daß die Aiel-Frauen dies alles genausowenig verstanden wie sie all ihre Septimen und Clans. Es müssen wohl so etwas wie Familien sein.
»Seid Ihr Erstschwestern?« Bain schien sie alle drei zu meinen.
Egwene glaubte, sie meinte damit Schwestern im Sinne der Aes Sedai und sagte »Ja«, während Elayne gleichzeitig »Nein« sagte.
Chiad und Bain tauschten Blicke, die andeuteten, die drei anderen Frauen seien wohl nicht ganz recht im Kopf.
»Erstschwestern«, sagte Elayne in belehrendem Ton zu Egwene, »bedeutet: Frauen, die die gleiche Mutter haben. Zweitschwestern heißt, ihre Mütter sind Schwestern.« Sie wandte sich den Aiel zu. »Keine von uns weiß viel über Euer Volk. Ich bitte Euch, unsere Unwissenheit zu verzeihen. Ich betrachte Egwene manchmal als meine Erstschwester, aber wir sind keine Blutsverwandten.«
»Warum legt Ihr dann kein Gelübde vor Euren Weisen Frauen ab?« fragte Chiad. »Bain und ich sind dadurch zu Erstschwestern geworden.«
Egwene zwinkerte überrascht. »Wie könnt Ihr zu Erstschwestern werden? Entweder habt Ihr die gleiche Mutter oder nicht. Ich möchte Euch ja nicht kränken. Das meiste dessen, was ich über die Töchter des Speers weiß, hat mir Elayne erzählt. Und das ist nicht viel. Ich weiß, daß Ihr in Schlachten kämpft und keine Männer wollt, aber mehr auch nicht.« Elayne nickte. So, wie sie die Töchter Egwene gegenüber beschrieben hatte, klang es nach einem Zwischending zwischen weiblichen Behütern und den Roten Ajah.
Wieder hatten die Aiel diesen Ausdruck in den Augen, als seien sie nicht sicher, ob Egwene und Elayne noch recht im Kopf waren.
»Wir wollen keine Männer?« murmelte Chiad, als sei ihr das ein Rätsel.
Bain runzelte die Stirn und dachte offensichtlich angestrengt nach. »Was Ihr sagt, kommt der Wahrheit nahe und ist trotzdem völlig falsch. Wenn wir dem Speer angetraut werden, schwören wir, uns nie an Mann oder Kind zu binden. Doch einige geben den Speer eines Mannes oder eines Kindes wegen auf.« Ihr Gesichtsausdruck zeigte ob des Gesagten Unverständnis. »Aber wenn der Speer einmal aufgegeben wurde, kann man ihn nie zurückerhalten.«
»Oder wenn sie erwählt wird, zu Rhuidean zu gehen«, warf Chiad ein. »Eine Weise Frau kann nicht dem Speer angetraut sein.«
Bain sah sie an, als habe sie verkündet, der Himmel sei blau oder Regen falle aus den Wolken herab. Doch dann blickte sie Egwene und Elayne an, und es schien ihr zu dämmern, daß die beiden all dies wirklich nicht wußten. »Ja, das stimmt. Auch wenn einige sich dagegen zu wehren versuchen.«
»Das schon.« Chiads Tonfall klang so, als teile sie ein diesbezügliches Geheimnis mit Bain.
»Aber ich habe mich nun zu weit von der eigentlichen Absicht meiner Erklärungen abbringen lassen«, fuhr Bain fort. »Die Töchter tanzen den Speertanz niemals miteinander, auch wenn unsere Clans das gelegentlich tun, aber die Shaarad Aiel und die Goschien Aiel haben vierhundert Jahre lang Blutrache aneinander geübt. So hatten Chiad und ich das Gefühl, es reiche uns nicht, dem Speer angetraut zu sein. Wir gingen zu den Weisen Frauen unserer Clans und legten dort den Eid ab — wobei sie genau wie ich unser Leben riskierten —, der uns zu Erstschwestern machte. Wie es sich für Erstschwestern unter den Töchtern gehört, decken wir einander den Rücken, und keine wird sich ohne die andere einem Mann zuwenden. Aber ich würde nicht behaupten, daß wir keine Männer wollen.« Chiad nickte mit der Andeutung eines Lächelns auf den Lippen. »Habe ich Euch die Wahrheit klargemacht, Egwene?«
»Ja«, sagte Egwene mit schwacher Stimme. Sie sah Elayne in die Augen, und in deren blauen Tiefen stand dieselbe Verwirrung geschrieben wie in ihren dunklen. Keine Roten Ajah. Vielleicht eher Grüne. Eine Mischung von Behütern und Grünen Ajah, und eigentlich kapiere ich gar nichts davon. »Mir ist nun das alles durchaus klar, Bain. Ich danke Euch.«
»Wenn Ihr beiden das Gefühl habt, Ihr wärt eigentlich Erstschwestern«, sagte Chiad, »dann solltet Ihr zu Euren Weisen Frauen gehen und den Eid ablegen. Aber Ihr seid selbst Weise Frauen — trotz Eurer Jugend. Ich weiß nicht, wie das in einem solchen Falle ablaufen könnte.«
Egwene wußte nicht, ob sie lachen oder erröten sollte. Sie sah Elayne und sich selbst vor sich, wie sie sich den gleichen Mann teilten. Nein, das gilt nur für
Erstschwestern, die auch noch Töchter der Speers sind, oder? Elayne hatte rote Flecken auf den Wangen und Egwene war sicher, daß sie an Rand dachte. Aber wir teilen ihn uns ja nicht, Elayne. Keine von uns kann ihn haben.
Elayne räusperte sich. »Ich glaube nicht, daß dies notwendig ist, Chiad. Egwene und ich decken uns schon jetzt gegenseitig den Rücken.«
»Wie kann das sein?« fragte Chiad bedächtig. »Ihr seid doch nicht dem Speer angetraut. Und Ihr seid Weise Frauen. Wer würde denn seine Hand gegen eine Weise Frau erheben? Das verwirrt mich. Warum ist es notwendig, daß Ihr euch gegenseitig Rückendeckung gebt?«
Egwene kam durch ihre Ankunft an dem Dickicht um eine Antwort herum. Unter den Bäumen befanden sich zwei weitere Aiel, tief drinnen, ganz nahe am Ufer. Jolien von der Salzebenen-Septime der Nakai Aiel, eine Frau mit blauen Augen und rotgoldenem Haar ähnlich dem Elaynes, behütete Dailin, die von Aviendhas Septime und Clan kam. Dailins Haar war schweißverklebt. Dadurch schimmerte es in noch dunklerem Rot. Sie öffnete nur einmal die grauen Augen, gleich bei ihrer Annäherung, und schloß sie sofort wieder. Mantel und Hemd lagen neben ihr, und um ihre Körpermitte waren blutgetränkte Bandagen gewickelt.
»Sie wurde von einem Schwert verletzt«, sagte Aviendha. »Ein paar dieser Narren, die von den meineidigen Baummördern Soldaten genannt werden, dachten, wir gehörten zu den Banditen, die sich in diesem Land herumtreiben. Wir mußten sie töten, um sie vom Gegenteil zu überzeugen, aber Dailin... Könnt Ihr sie heilen, Aes Sedai?«
Nynaeve kniete neben der Verletzten nieder und hob ihre Bandagen an, um die Verwundung betrachten zu können. Sie verzog das Gesicht ob dieses Anblicks. »Habt Ihr sie bewegt, seit sie verletzt wurde? Es ist ein wenig Kruste zu sehen, die aber gebrochen wurde.«
»Sie wollte in der Nähe des Wassers sterben«, sagte Aviendha. Sie blickte kurz zum Fluß hinüber und dann schnell wieder weg. Egwene glaubte gesehen zu haben, daß sie schauderte.
»Närrin!« Nynaeve begann, in ihrer Tasche nach Kräutern zu kramen. »Ihr hättet sie damit umbringen können, daß Ihr sie mit einer solchen Verwundung transportiert habt! Sie wollte in der Nähe des Wassers sterben. Ha!« sagte sie angewidert. »Nur weil Ihr wie die Männer Waffen tragt, müßt Ihr noch nicht anfangen, genau wie Männer zu denken.« Sie zog einen hohen Holzbecher aus einer Tasche und drückte ihn Chiad in die Hand. »Füllt den. Ich brauche Wasser zum Hineinmischen, damit sie es trinken kann.«
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