Als er an Deck ging, war Lan schon da und kümmerte sich um Mandarb. Und Zarine saß auf einer Taurolle nahe der Reling, schliff eines ihrer Messer und beobachtete ihn. Die großen, dreieckigen Segel waren gesetzt und blähten sich im Wind. Die Schneegans machte gute Fahrt flußabwärts.
Zarines Blick folgte Perrin, als er an ihr vorbei zum Bug ging. Das Wasser wurde vom Bug des Schiffes aufgeworfen wie der Erdboden von einem guten Pflug. Er grübelte über Träume und Aiel-Männer nach, über Mins Voraussagen und Falken. Seine Brust tat weh. Sein Leben war noch nie so kompliziert verlaufen wie jetzt.
Rand fuhr aus seinem Schlaf der Erschöpfung hoch und schnappte nach Luft. Der Umhang, den er als Decke benutzt hatte, rutschte herunter. Seine Seite schmerzte. Die alte Wunde aus Falme klopfte fiebrig. Sein Feuer war bis auf die Glut einiger Kohlen heruntergebrannt, und nur gelegentlich züngelten daraus noch Flammen empor, doch es reichte, um die Schatten in Bewegung zu versetzen. Das war Perrin. Bestimmt! Er war es selbst, nicht bloß im Traum. Irgendwie. Und ich habe ihn beinahe umgebracht! Licht, ich muß vorsichtiger sein!
Vor Kälte zitternd, nahm er ein Stück eines Eichenastes in die Hand und wollte es zwischen die Kohlen schieben. Es gab nur vereinzelte Bäume in diesen Hügeln von Murandy nahe dem Manetherendrelle, aber er hatte genügend abgebrochene Äste gefunden, gerade alt genug, um richtig zu brennen, aber noch nicht verrottet. Bevor jedoch das Holz die Kohlen berührte, hielt er in der Bewegung inne. Pferde näherten sich, zehn oder zwölf, langsam, im Schrittempo. Ich muß vorsichtig sein. Ich kann mir keine Fehler mehr leisten.
Die Pferde bogen in Richtung seines niedergebrannten Feuers ab, traten in den trüben Lichtkreis und blieben stehen. Der Schatten ließ ihre Reiter nur als verschwommene Gestalten erscheinen, aber die meisten schienen Männer mit groben Gesichtern zu sein, die runde Helme und lange Lederwämser trugen, mit Metallscheiben wie mit Fischschuppen besetzt. Ein Reiter allerdings war eine Frau mit ergrautem Haar und einem strengen Gesichtsausdruck. Ihr dunkles Kleid war aus einfacher Wolle, aber vom feinsten Webmuster. Daran trug sie eine silberne Nadel, deren Kopf einen Löwen darstellte. Sie hätte zu den Kaufleuten gehören können, die immer zu den Zwei Flüssen kamen und dort Tabak und Wolle kauften. Eine Kauffrau und ihre Leibwächter.
Ich muß vorsichtig sein, dachte er beim Aufstehen. Keine Fehler.
»Ihr habt einen guten Lagerplatz gewählt, junger Mann«, sagte sie. »Ich habe ihn auf dem Weg nach Remen schon oft benützt. In der Nähe ist eine kleine Quelle. Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen, ihn mit uns zu teilen?« Ihre Leibwächter stiegen bereits ab, rückten ihre Schwertgurte zurecht und lösten die Sattelgurte ihrer Pferde. »Nichts«, entgegnete Rand. Vorsicht. Zwei Schritte brachten ihn nahe genug heran, und dann sprang er hoch in die Luft, wirbelte herum — ›Daunenfedern im Sturmwind‹ — hielt ein aus Flammen entstandenes Reiherschwert in der Hand und hieb ihr den Kopf ab, bevor sich auf ihrem Gesicht auch nur Überraschung zeigen konnte. Sie war die gefährlichste.
Er war schon wieder auf den Beinen, als der Kopf der Frau von ihrem Pferd rollte. Die Wächter schrien und griffen nach ihren Schwertern, und sie schrien erst recht, als sie erkannten, daß sein Schwert brannte. Er tanzte so zwischen ihnen hindurch, wie Lan es ihn gelehrt hatte, und er wußte, daß er alle zehn auch mit gewöhnlichem Stahl hätte töten können, doch die Klinge, die er führte, war ein Teil seiner selbst. Der letzte Mann fiel, und es war seinen Fechtübungen unter Lan so ähnlich gewesen, daß er schon sein Schwert zurück in die Scheide stecken wollte — ›Den Fächer zusammenfalten‹ nannte man das —, als er sich daran erinnerte, daß er gar keine Scheide trug, und das Schwert hätte bei der ersten Berührung sowieso jede Scheide zu Asche zerfallen lassen. Er ließ das Schwert verschwinden und wandte sich den Pferden zu. Die meisten waren weggelaufen, aber ein paar davon nicht weit, und der hochgewachsene Wallach der Frau stand mit rollenden Augen da und wieherte übernervös. Ihre kopflose Leiche, die am Boden daneben lag, hatte die Zügel nicht losgelassen und zog den Kopf des Tieres immer noch herunter.
Rand zog der Toten die Zügel aus der Hand, suchte schnell seine paar Besitztümer zusammen und schwang sich in den Sattel. Ich muß vorsichtig sein, dachte er, als er die Leichen überblickte. Keine Fehler.
Die Macht erfüllte ihn noch, dieser Strom von Saidin — süßer als Honig, verdorbener als verwesendes Fleisch. Mit einem Mal lenkte er die Macht erneut, ohne eigentlich richtig zu wissen, warum er das tat oder was er überhaupt wollte. Er wußte nur, daß es richtig war, und es funktionierte auch. Die Leichen schwebten hoch, und dann setzte er sie alle ihm gegenüber auf die Knie. Sie fielen um, und ihre Gesichter lagen im Schmutz. Die Gesichter derjenigen jedenfalls, die überhaupt noch welche hatten. Aber sie hatten vor ihm gekniet.
»Ich bin der Wiedergeborene Drache«, sagte er zu ihnen, »und so sollte es doch sein, oder?« Saidin wieder loszulassen fiel ihm schwer, doch er brachte es fertig. Wenn ich zu lange daran festhalte, wie kann ich dann den Wahnsinn zurückhalten? Er lachte bitter auf. Oder ist es dafür schon zu spät?
Mit gerunzelter Stirn blickte er die Reihe entlang. Er war sicher gewesen, daß es nur zehn waren, doch nun lagen elf Männer vor ihm, einer davon ohne irgendwelche Kampfausrüstung, doch immer noch mit einem Dolch in der Hand.
»Du hast dir die falsche Gesellschaft ausgesucht«, sagte Rand zu dem Mann.
Er riß den Wallach herum, trieb ihm die Fersen in die Flanken und ließ das Tier durch die Dunkelheit galoppieren. Es war noch ein langer Weg bis Tear, aber er wollte so schnell wie möglich dorthin, und wenn er Pferde dabei zuschanden reiten oder neue stehlen mußte. Ich werde dem allem ein Ende machen. Der Verlockung. Den Ködern. Ich werde diesen Zustand beenden! Callandor. Es zog ihn magisch an.
Egwene erwiderte die respektvolle Verbeugung des Besatzungsmitglieds, das barfuß an ihr vorbeipatschte, mit einem graziösen Kopfnicken. Er zog an einem Tau, das sowieso schon straff gespannt schien, und verschob damit vielleicht die Stellung eines der großen, quadratischen Segel um ein Weniges. Als er dann zurücktrabte, dorthin, wo der Kapitän neben dem Rudergänger stand, verbeugte er sich noch mal, und sie nickte noch einmal. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem bewaldeten Ufer Cairhiens zu, das weniger als zwanzig Spannen entfernt an dem Blauen Kranich vorbeiglitt.
Sie kamen an einem Dorf vorbei, oder dem, was einmal ein Dorf gewesen war. Die Hälfte aller Häuser bestand nur noch aus qualmenden Schutthaufen, aus denen höchstens noch die Schornsteine wie kahle Bäume herausragten. An den anderen Häusern standen die Türen offen und wurden vom Wind hin- und hergeschlagen, während einzelne Möbelstücke, Kleider und Haushaltsgegenstände auf der Straße herumlagen. Der Wind packte auch sie und warf sie umher. Nichts Lebendiges rührte sich im Dorf bis auf einen halbverhungerten Hund, der das vorübergleitende Schiff nicht weiter beachtete und hinter den eingestürzten Mauern eines Gebäudes verschwand, das wohl eine Schenke gewesen war. So etwas konnte sie nicht sehen, ohne ein flaues Gefühl im Magen zu spüren, doch sie bemühte sich, die leidenschaftslose Würde zu wahren, die sie sich bei einer Aes Sedai vorstellte. Es half nicht viel.
Jenseits des Dorfes stieg eine dicke Qualmwolke in den Himmel. Drei oder vier Meilen weiter, schätzte sie.
Das war nicht die erste solche Qualmwolke, die sie gesehen hatte, seit der Erinin an der Grenze nach Cairhien entlanggeflossen war, und es war nicht das erste zerstörte Dorf. Wenigstens sah man diesmal keine Leichen herumliegen. Kapitän Ellisor mußte manchmal der sich verschiebenden Schlammbänke im Fluß wegen ganz nahe am Ufer Cairhiens entlangsteuern. Trotzdem hatten sie bisher keinen einzigen lebenden Menschen gesehen.
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