Wie sie das Reisebuch so mit einer Hand zur Seite hielt und flüchtig darin blätterte, sah sie plötzlich eine Nachricht aufblitzen.
In diesem Moment platzte Rikka abermals ins Zelt. Sie knallte einen schweren Sack auf Vernas Schreibtisch, mitten auf den Stapel mit Berichten.
»Hier!« Ihre Hitzigkeit verlieh ihrer Stimme zusätzlich Nachdruck.
Erst jetzt hob Verna den Kopf, und zum allerersten Mal bemerkte sie Rikkas seltsame Bekleidung. Verna starrte sie offenen Mundes an. Rikka trug nicht etwa den Anzug aus hautengem rotem Leder, den Mord-Sith normalerweise trugen, wenn sie sich nicht gerade eine ihrer seltenen Erholungspausen gönnten und den gleichen Anzug in Braun anhatten. Verna hatte sie nie etwas anderes als diese Lederanzüge tragen sehen.
Doch jetzt trug Rikka ein Kleid.
Verna konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so verblüfft gewesen war.
Zumal es nicht irgendein Kleid war, sondern eines aus rosafarbenem Stoff, in dem sich keine Frau in Rikkas Alter von um die dreißig auch nur hätte begraben lassen wollen. Der Halsansatz war so tief ausgeschnitten, daß darunter ein üppiger Busen zum Vorschein kam; die beiden Rundungen waren so weit hochgeschnürt, daß sie beinahe herausquollen. Zu Vernas Überraschung war es ihr gleichwohl gelungen, einen letzten Rest von Schicklichkeit zu wahren, vor allem, da ihr Busen auf Grund ihrer Aufgebrachtheit mächtig wogte.
»Ihr auch?«, fauchte Rikka.
Endlich hob Verna den Blick und sah in Rikkas blitzende blaue Augen. »Ich auch, was?«
»Ihr könnt Euch wohl auch nicht an meinem Busen satt sehen.«
Verna fühlte sich zutiefst erröten und versuchte von diesem Umstand abzulenken, indem sie die Mord-Sith mit erhobenem Finger tadelte.
»Was lauft Ihr auch in diesem Aufzug in einem Armeelager herum! Mitten unter all den Soldaten! Ihr seht aus wie eine Dirne!«
Erst jetzt, als sie ihr endlich ins Gesicht sah, bemerkte Verna, daß Rikka ihr sonst zu einem Zopf geflochtenes Haar offen trug. Ihr langes Haar fiel jetzt so frei wie eine Pferdemähne. Noch nie hatte Verna eine Mord-Sith in der Öffentlichkeit gesehen, ohne daß ihr Haar zu einem Zopf, einem der wichtigsten Attribute ihres Berufsstandes, geflochten gewesen wäre.
Nicht einmal der offenherzige Busen vermochte sie so zu schockieren wie Rikkas gelöstes Haar. Mehr als alles andere war es das, was ihrer Erscheinung, erkannte Verna jetzt, einen Hauch von Unanständigkeit verlieh. Ihr aufgelöster Zopf kam einer Schändung gleich, auch wenn es ihr fern lag, einen Berufsstand, dessen Hauptbeschäftigung das Foltern war, zu rechtfertigen.
In diesem Moment besann sich Verna, daß sie selbst eine dieser Mord-Sith, Cara, gebeten hatte, den jungen Mann – fast war er noch ein Junge –, der Warren ermordet hatte, nach allen Regeln der Kunst zu foltern. Die ganze Nacht hatte sie wach gesessen und gelauscht, wie er sich die Seele aus dem Leib geschrien hatte. Selbst die ungeheuren Quälen, die er durchlitten hatte, hatten sie damals nicht annähernd befriedigen können.
Manchmal fragte sie sich, ob der Hüter der Unterwelt sie im nächsten Leben als Sühne für ihre Taten für alle Zeiten auf ähnlich unerquickliche Weise büßen lassen werde, im Grunde jedoch war es ihr gleich. Wie hoch der Preis auch sein mochte, er war es ihr wert gewesen.
Außerdem, fand sie, würde der Begriff Gerechtigkeit jeden Sinn verlieren, wenn man sie dafür verdammte, daß sie diesen Mann seiner gerechten Strafe zugeführt hatte, denn dann wäre es egal, ob man ein achtbares oder gewissenloses Leben führte. Dafür, daß sie diesem widerwärtigen, völlig amoralischen Monstrum in Menschengestalt, das Warren ermordet hatte, Gerechtigkeit hatte widerfahren lassen, gebührte ihr vielmehr im Jenseits ein ewiges Leben im wärmenden Licht des Schöpfers an der Seite von Warrens Seele – oder es gab keine Gerechtigkeit.
General Meiffert kam, die Hände zu Fäusten geballt, ins Zelt gestürmt. Als er Verna hinter ihrem kleinen Schreibtisch sitzen sah, strich er sich das Haar aus dem Gesicht und wurde merklich ruhiger.
Der General hatte die Tischler den winzigen Schreibtisch eigens für sie aus alten, in einem verlassenen Farmhaus zurückgelassenen Möbeltrümmern zimmern lassen. Er war natürlich nicht mit den Schreibtischen im Palast der Propheten zu vergleichen, dafür war in dieses Geschenk mehr Bedacht und Sorgfalt eingeflossen als in den prächtigsten mit Blattgold überzogenen Schreibtisch dort. General Meiffert war sehr stolz gewesen, als er sah, wie sehr Verna ihn zu schätzen wußte.
Er erfaßte Rikkas Kleid und Frisur mit einem flüchtigen Seitenblick. »Was hat das zu bedeuten?«
»Nun«, meinte Verna, »Genaues weiß ich auch nicht. Offenbar hat eine der Schwestern in Jagangs Gewalt einen Paß ausgekundschaftet.«
Rikka verschränkte ihre bloßen Arme über ihrem nahezu entblößten Busen. »Nicht irgendeine Schwester, sondern eine Schwester der Finsternis.«
»Jagang sendet schon den ganzen Winter über Schwestern zum Erkunden der Pässe aus«, wandte der junge General ein. »Die Prälatin hat überall Fallen aufstellen und Schilde errichten lassen.« Sein Ton wurde besorgter. »Oder wollt Ihr uns etwa erzählen, eine von ihnen sei durchgeschlüpft?«
»Nein, ich will damit nur sagen, daß ich sie verfolgt habe.«
Verna runzelte besorgt die Stirn. »Was redet Ihr denn da? Auf diese Weise haben wir bereits ein halbes Dutzend Mord-Sith verloren. Seitdem Ihr die Köpfe zweier Eurer Gefährtinnen auf Pfählen aufgespießt gefunden habt, hat Euch die Mutter Konfessor höchstselbst untersagt, Euer Leben weiter bei solch sinnlosen Einsätzen zu gefährden.«
Endlich ging ein Lächeln über Rikkas Lippen – jene Art selbstzufriedenes Lächeln, das, insbesondere, wenn es von einer Mord-Sith kam, anderen zuweilen Alpträume bereitete.
»Sieht das etwa aus, als wäre es sinnlos?«
Rikka langte tief in ihren Sack und förderte einen menschlichen Kopf zutage, den sie Verna an den Haaren vors Gesicht hielt; dann drehte sie sich zur Seite, um auch General Meiffert damit zu drohen, ehe sie ihn auf den kleinen Schreibtisch knallte. Blut und Gehirnmasse sickerte heraus und verteilte sich über die Papiere.
»Wie ich sagte, eine Schwester der Finsternis.«
Obwohl der Tod es fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt hatte, erkannte Verna das Gesicht sofort wieder. Rikka hatte Recht, es war eine Schwester der Finsternis; die Frage war nur, woher sie das so sicher wußte.
Draußen hörte Verna Hufgetrappel von Pferden, die an ihrem Zelt vorübertrabten. Soldaten begrüßten überschwenglich ihre von einer Patrouille zurückkehrenden Kameraden; in der Ferne waren Unterhaltungen zu hören, immer wieder unterbrochen von laut gebrüllten Befehlen. Man hörte das glockenartige Klingen schwerer Hämmer auf Stahl, als Soldaten glühendes Metall zu allerlei nützlichen Werkzeugen für die Reparaturarbeiten an der Ausrüstung schmiedeten. Ganz in der Nähe tummelten sich Pferde ausgelassen in einer Koppel. Eine Gruppe von Soldaten passierte unter dem Gerassel ihrer Rüstungen Vernas Zelt. Irgendwo prasselten Feuer, als Köche Holz nachlegen ließen, oder loderten brüllend auf, sobald die Blasebälge die Flammen in den Essen der Schmiede zu weißer Glut anheizten.
»Habt Ihr sie mit Eurem Strafer berührt?«, erkundigte sich Verna mit ruhiger Stimme. »Euer Strafer ist bei den vom Traumwandler kontrollierten Schwestern nicht eben wirkungsvoll.«
Rikkas Lächeln bekam etwas Durchtriebenes. »Strafer? Seht Ihr an mir irgendwo einen Strafer?«
Verna wußte ganz genau, daß keine Mord-Sith ihren Strafer jemals aus der Hand geben würde. Ein Blick zu ihrem Ausschnitt ließ zumindest ahnen, wo sie ihn versteckt hatte.
»Also schön«, mischte sich General Meiffert ein. Jede Spur von Nachsicht war aus seinem Ton gewichen. »Ich will wissen, was hier gespielt wird, und zwar auf der Stelle.«
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