»Kommt Ihr von weit her?«, wandte sich die unmittelbar neben ihr sitzende Frau an sie.
Ann hob den Kopf, als sie merkte, daß die Frau sie angesprochen hatte. »Ja, schon, man kann wohl sagen, es war eine ziemlich weite Reise bis hierher.«
Dann steckte Ann ihre Nase wieder in die Tasche, kramte, in der Hoffnung, nicht mehr behelligt zu werden, emsig weiter.
Die Frau mittleren Alters mit den braunen, von ersten grauen Strähnen durchsetzten Locken lächelte. »Also, eigentlich wohne ich gar nicht so weit weg von hier, aber manchmal verbringe ich ganz gerne einen Abend im Palast, einfach so, um mich ein wenig aufzuheitern.«
Ann ließ den Blick über den polierten Marmorboden schweifen, über die glänzenden roten Steinsäulen unter den Bögen, die, verziert mit in Stein gemeißelten Ranken, die oberen Emporen stützten. Ihr Blick wanderte zu den Oberlichtern hinauf, durch die tagsüber das Licht in den Palast einfiel, dann schaute sie hinüber zu den prachtvollen, auf Sockeln stehenden Statuen, die sich rings um einen Brunnen mit lebensgroßen, für alle Zeiten durch eine glitzernde Gischt aus Wasser galoppierenden Pferden gruppierten.
»Ja, ich verstehe, was Ihr meint.«
Der Ort war mitnichten dazu angetan, sie aufzuheitern; tatsachlich machte er sie nervös wie ein Katze in einem Hundezwinger mit verriegelter Tür. Deutlich spürte sie, daß ihre Kraft an diesem Ort stark vermindert war.
Der Palast des Volkes war weit mehr als nur irgendein Palast. Im Grunde war er eine komplette Stadt unter zahllosen, ineinander übergehenden Dächern hoch oben auf einem Felsplateau. Zehntausende Menschen lebten dauerhaft in diesem überaus großzügig angelegten Bauwerk, zehntausend weitere besuchten es tagtäglich. Der eigentliche Palast bestand aus mehreren verschiedenen Ebenen; auf einigen hatten die Bewohner ihre Geschäfte und boten Waren feil, auf anderen arbeiteten die Beamten, während wieder andere als Wohnquartiere dienten. Zu weiten Teilen des Palasts war Besuchern der Zutritt verwehrt.
Um den Sockel der Hochebene erstreckte sich ein weitläufiger Ring aus wilden Märkten, wo die Menschen zum Kaufen, Verkaufen und Tauschen von Waren zusammenkamen. Bei ihrem Aufstieg im Innern des Palasts bis hinauf zur obersten Ebene war Ann an zahlreichen fest eingerichteten Ladengeschäften vorbeigekommen. Die Stadt war ein Handelszentrum, das Menschen aus ganz D’Hara anlockte. Vor allem aber war der Palast der Stammsitz des Hauses Rahl und in dieser Hinsicht überaus beeindruckend – aus geheimnisvollen, verborgenen Gründen, die sich dem Bewußtsein oder gar dem Verständnis der meisten Menschen, die ihn als ihr Zuhause betrachteten oder ihn besuchten, entzogen. Denn der Palast des Volkes war ein Bann – nicht etwa ein mit einem Bann belegter Ort wie der Palast der Propheten, in dem Ann den größten Teil ihres Lebens verbracht hatte – nein, der Bann war das Gebäude selbst.
Die gesamte Palastanlage war nach einem sorgfältigen und präzisen Entwurf errichtet worden: dem eines auf die gesamte Fläche des Geländes gezeichneten Banns. Die äußeren Befestigungsmauern verkörperten die eigentliche Bannform, während die Hauptzusammenballungen von Räumlichkeiten in seinem Innern die wichtigsten Knotenpunkte darstellten, deren Verbindungslinien die Hallen und Flure bildeten – die Essenz des Banns, seine Kraft.
Wie bei einem mit der Spitze eines Stocks in den Staub gezeichneten Bann, so hatten die Flure in einer durch die spezielle Magie, die der Bann bewirken sollte, vorgeschriebenen Reihenfolge errichtet werden müssen. Diese Bauweise war ungeheuer kostspielig gewesen, zumal sie die charakteristischen Anforderungen und bewährten Methoden des Bauhandwerks außer Acht ließ, doch nur so war zu gewährleisten, daß der Bann seinen Zweck erfüllte. Und das tat er.
Der Bann hatte einen klar umrissenen Zweck: Er sollte jedem Rahl eine sichere Zuflucht bieten, indem er dessen Kraft im Innern des Palasts verstärkte, während er sie jedem anderen, der ihn betrat, zumindest teilweise entzog. Noch nie hatte Ann an einem Ort eine so deutliche Minderung ihres Man, ihrer Lebensessenz, ihrer Gabe, gespürt. Nicht lange, und ihr Man wäre vermutlich so geschwächt, daß sie damit nicht einmal mehr eine Kerze entzünden konnte.
Dann plötzlich wurde ihr noch ein weiterer Aspekt des Banns bewußt, und ihr fiel vor ehrfürchtigem Staunen der Unterkiefer herunter. Ihr Blick ging zu den Fluren – den Verbindungslinien des Banns –, in denen sich die Menschen drängten.
Ein Bann, mit Blut gezeichnet, war stets wirkungsvoller und mächtiger als alle anderen. Doch sobald das Blut im Boden versickerte, um sich dort schließlich zu zersetzen, schwand oftmals auch die Kraft des Banns. In diesem Fall jedoch waren die Flure – die Linien, mit denen der Bann gezeichnet worden war – erfüllt vom kraftspendenden, belebenden Blut jener unzähligen Menschen, die sie bevölkerten. Die überwältigende Genialität dieses Einfalls erfüllte sie mit sprachloser, fast ehrfürchtiger Scheu.
»Dann werdet Ihr Euch wohl ein Zimmer nehmen.«
Ann hatte die Frau neben ihr, die sie noch immer, ein erstarrtes Lächeln auf ihren angemalten Lippen, musterte, völlig vergessen.
»Nun ja ...«, gestand Ann schließlich. »Wenn ich ehrlich sein soll, ich habe noch gar keine Vorkehrungen getroffen, wo ich schlafen möchte.«
Das Lächeln der Frau verlor ein wenig von seiner Bemühtheit. »Ich war bereits auf dem Weg zu meinem Zimmer und könnte Euch mitnehmen. Es ist gar nicht weit.«
»Das wäre sehr freundlich von Euch«, erwiderte Ann und erhob sich. Die Fremde erhob sich ebenfalls und wünschte ihren beiden Banknachbarinnen eine gute Nacht.
»Hier entlang«, sagte ihre Begleiterin und zupfte an Anns Ärmel. Sie bedeutete Ann, ihr einen Seitenkorridor entlang zu folgen.
Plötzlich packte eine Hand Ann an der Schulter ihres Kleides und zwang sie, abrupt stehen zu bleiben. Ann und die fremde Frau fuhren herum. Hinter ihnen stand eine sehr große Frau mit einem sehr blonden langen Zopf und sehr blauen Augen, die sie, gekleidet in einen sehr roten Lederanzug, mit sehr finsterer Miene musterte.
Die Frau neben Ann wurde leichenblaß, ihr Mund klappte auf. Ann mußte sich zusammenreißen, um nicht ebenso zu reagieren.
»Wir haben Euch bereits erwartet«, erklärte die Frau in rotem Leder.
Hinter ihrem Rücken, ein kleines Stück weiter zurück im Gang, stand, locker verteilt, um den Flur vollständig abzuriegeln, ein Dutzend makelloser, hünenhafter Soldaten in makellosen Lederuniformen und mit makellos blank polierten Schwertern, Messern und Langwaffen in den Händen.
»Ich glaube, Ihr müßt mich mit jemandem verwechselt haben ...«
»Mir unterlaufen keine Verwechslungen.«
Ann war nicht annähernd so groß wie die blonde Frau im roten Lederanzug; sie reichte ihr nicht einmal merklich bis über den Halbmond und Stern auf ihrer Brust.
»Nein, wahrscheinlich nicht. Um was geht es denn überhaupt?«, fragte Ann, aus deren Stimme jede Spur von Zaghaftigkeit und Naivität gewichen war.
»Zauberer Rahl wünscht, daß wir Euch zu ihm bringen.«
»Zauberer Rahl?«
»Richtig. Zauberer Nathan Rahl.«
Ann hörte die Frau neben sich erschrocken aufstöhnen. Sie glaubte schon, sie werde in Ohnmacht fallen, und griff beherzt nach ihrem Arm.
»Geht es Euch gut, meine Liebe?«
Sie starrte die Frau im roten Lederanzug aus großen Augen an, die grollend auf sie herabblickte. »Doch, ja. Ich muß jetzt gehen, bin schon spät dran. Ihr gestattet doch?«
»Ja, ich denke auch, Ihr solltet jetzt besser gehen«, erwiderte die große Blonde.
Die Frau machte eine knappe Verbeugung und murmelte ein »Gute Nacht«, ehe sie sich mit hastigen Schritten den Flur entlang entfernte. Sie sah sich nur ein einziges Mal um.
Ann wandte sich wieder der finsteren Miene zu. »Nun, ich bin froh, daß Ihr mich gefunden habt. Gehen wir also jetzt zu diesem Nathan, Verzeihung ... zu Zauberer Rahl.«
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