Kahlan stieß einen tiefen Seufzer aus. »Sie befanden sich wirklich in einer verzweifelten Lage.«
»Blankes Chaos drohte.«
Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Was beschloß man dagegen zu tun?«
Richard betrachtete sie mit einem dieser Blicke, die ihr verrieten, daß ihn die Antwort auf diese Frage ziemlich verstört hatte.
»Sie gaben der Magie den Vorrang vor den Menschen. Nach ihrem Dafürhalten war diese Eigenschaft – die Magie, aber auch diejenigen, die sie besaßen – wichtiger als das menschliche Leben.« Er hob aufgeregt die Stimme. »Sie änderten den Grund, weshalb sie den Krieg überhaupt nur geführt hatten, nämlich das Recht der mit Magie Geborenen auf ein eigenständiges, ihren von Geburt an mitgegebenen Anlagen entsprechendes Leben, und kehrten es ins völlige Gegenteil, bis diese abstrakte Eigenschaft plötzlich wichtiger war als das Menschenleben, das sie in sich barg!«
Er atmete hörbar aus und senkte die Stimme. »Die Betroffenen waren viel zu zahlreich, als daß man sie alle hätte hinrichten können, also begnügte man sich mit der zweitbesten Lösung – man verbannte sie.«
Kahlan zog erstaunt die Brauen hoch. »Man verbannte sie. Wohin?«
Richard beugte sich zu ihr. die Augen fiebrig vor Erregung. »In die Alte Welt.«
»Was!«
Achselzuckend tat Richard, als machte er sich zum Anwalt der Zauberer von damals, um die Absurdität ihrer Denkweise bloßzulegen. »Was hätten sie auch tun sollen? Sie hinzurichten kam nicht in Frage, es waren schließlich Freunde und Familienangehörige. Viele der Menschen, die einen Funken der Gabe besaßen – ohne zum Zauberer oder zur Hexenmeisterin begabt zu sein, weshalb sie selbst sich als nicht mit der Gabe gesegnet betrachteten – hatten Söhne, Töchter, Brüder Schwestern, Onkel, Tanten, Basen oder Nachbarn, die mit einem der von der Gabe völlig Unbefleckten – mit einer dieser Säulen der Schöpfung – verheiratet waren. Sie waren fester Bestandteil einer Gesellschaft, in der die wahrhaft mit der Gabe Gesegneten zwangsläufig immer seltener wurden. In einer Gesellschaft, in der sie zunehmend zur Minderheit wurden, in der das Mißtrauen ihnen gegenüber stetig wuchs, brachten es die mit der Gabe gesegneten Herrschenden nicht über sich, diese mit einem Makel behafteten Menschen samt und sonders einfach auszurotten.«
»Soll das etwa heißen, sie haben es auch nur in Betracht gezogen?«
Richards Blick bestätigte ihr genau dies – und verriet ihr gleichzeitig, was er von diesem Gedanken hielt. »Aber letztendlich brachten sie es nicht über sich. Denn nachdem sie alles versucht hatten, mußten sie erkennen, daß sie die Verbindung dieser Menschen zur Magie, war sie einmal abgerissen, nicht wiederherstellen konnten. Diese Menschen heirateten und bekamen Kinder, deren Kinder wiederum heirateten und ebenfalls Kinder in die Welt setzten, die diesen Makel ausnahmslos weitervererbten, so daß die Zahl der mit dem Makel Behafteten rascher anschwoll, als alle vorhergesehen hatten.
Soweit es die mit der Gabe Gesegneten betraf, war ihre Welt ebenso bedroht wie zuvor durch den Großen Krieg, denn die Alte Welt hatte damals dasselbe Ziel verfolgt – die Vernichtung aller Magie. Plötzlich schienen sich ihre schlimmsten Befürchtungen auf makabre Weise zu bestätigen.
Der Schaden war irreparabel, seine Ausbreitung nicht aufzuhalten, und es war unmöglich, all diese Menschen, die mitten unter ihnen lebten, umzubringen. Und jetzt, da der Makel immer weiter um sich griff, wurde ihnen auch noch bewußt, daß ihnen die Zeit davonzulaufen drohte. Also beschlossen sie, auf den einzigen noch verbliebenen Ausweg zurückzugreifen – die Verbannung.«
»Und diese Menschen konnten die Barriere überwinden?«
»Den mit der Gabe Gesegneten war dies in allen praktischen Belangen völlig unmöglich, aber für die Säulen der Schöpfung existierte Magie nicht; sie vermochte sie in keiner Weise zu beeinflussen, somit war die Barriere für sie kein Hindernis.«
»Wie konnten die Verantwortlichen damals sicher sein, sämtliche Säulen der Schöpfung verbannt zu haben? Wenn auch nur einige wenige der Verbannung entgingen, hätte diese doch ihren Zweck verfehlt?«
»Die mit der Gabe Geborenen – Zauberer und Hexenmeisterinnen – können die von der Gabe völlig Unbeleckten irgendwie als das erkennen, was sie sind: als Lücken in der Welt, wie Jennsen sie nennt. Die mit der Gabe Geborenen können sie zwar sehen, nicht aber mit ihrer Gabe spüren. Offenbar war es nicht schwer festzustellen, wer zu den Säulen der Schöpfung gehörte.«
»Kannst du sie voneinander unterscheiden?«, fragte Kahlan. »Spürst du, daß Jennsen anders, daß sie eine Lücke in der Welt ist?«
»Nein, allerdings wurde ich auch nicht im Gebrauch meiner Talente unterwiesen. Und du?«
Kahlan schüttelte den Kopf. »Ich bin keine Hexenmeisterin, folglich besitze ich wohl auch nicht die Fähigkeit, Menschen wie sie zu erkennen.« Sie verlagerte das Gewicht im Sattel. »Und was wurde damals nun aus diesen Menschen?«
»Die Bewohner der Neuen Welt trieben sämtliche nicht mit der Gabe gesegneten Nachkommen des Hauses Rahl sowie deren Nachkommen zusammen und schickten sie geschlossen durch die Große Barriere in die Alte Welt, deren Bewohner erklärt hatten, sie wollten eine Menschheit frei von jeglicher Magie.«
Die Ironie der Geschichte ließ Richard trotz aller Schrecklichkeit schmunzeln. »Im Wesentlichen gaben sie ihren Feinden damit, was sie angeblich wollten und wofür sie gekämpft hatten: eine Menschheit bar jeder Magie.«
Sein Lächeln erlosch. »Kannst du dir vorstellen, wir müßten über Jennsens Verbannung in eine furchterregende, unbekannte Welt entscheiden, nur weil sie unfähig ist, Magie wahrzunehmen?«
Kahlan versuchte, sich in die Situation zu versetzen, und schüttelte den Kopf. »Welch grauenhafte Vorstellung, entwurzelt und einfach fortgejagt zu werden, obendrein noch zu den Feinden des eigenen Volkes.«
Richard ritt eine Zeit lang schweigend weiter, ehe er schließlich mit der Geschichte fortfuhr. »Für die Verbannten bedeutete dies ein grauenhaftes Erlebnis, aber auch für die Zurückgebliebenen war es eine fast unerträglich traumatische Erfahrung. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie das gewesen sein muß: all die Freunde und Verwandten, die plötzlich aus deinem Leben, aus deiner Familie gerissen wurden, der Abbruch von Handelsbeziehungen, die Einbrüche im Auskommen?« Richards Worte waren erfüllt von bitterer Endgültigkeit. »Und das alles nur, weil man einen bestimmten Wesenszug für wichtiger hielt als das menschliche Leben.«
Allein schon das Zuhören hatte für Kahlan etwas unendlich Quälendes. Sie betrachtete Richard, der neben ihr ritt, den Blick gedankenverloren starr nach vorn gerichtet.
»Und was geschah dann?«, fragte sie schließlich. »Hat man je wieder von den Verbannten gehört?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht das Geringste. Sie lebten fortan jenseits der großen Barriere und existierten somit praktisch nicht mehr.«
Kahlan strich über den Hals ihres Pferdes, nur um das tröstliche Gefühl eines lebenden Wesens zu spüren. »Und was geschah mit all denen, die danach geboren wurden?«
Sein Blick war noch immer starr nach vorn gerichtet. »Sie wurden getötet.«
Kahlan schluckte angewidert. »Mir ist unbegreiflich, wie sie zu so etwas fähig sein konnten.«
»Unmittelbar nach der Geburt eines Kindes ließ sich feststellen, ob es mit der Gabe gesegnet war oder nicht. Angeblich war es einfacher, solange die Kinder noch keinen Namen hatten.«
Für einen Moment verschlug es Kahlan die Sprache, ehe sie mit matter Stimme wiederholte: »Es ist mir völlig unbegreiflich.«
»Nichts anderes haben Konfessorinnen nach der Geburt eines männlichen Konfessors getan.«
Seine Bemerkung traf sie ins Mark. Sie erinnerte sich nur äußerst ungern an diese Zeiten, an die Male, da eine Konfessorin ein männliches Kind zur Welt gebracht hatte, das schließlich auf Geheiß der Mutter getötet worden war.
Читать дальше