Die letzte Tracht Prügel scheint ja nichts gebracht zu haben, erwiderte Surial. Er hat sie wie ein Mann und nicht wie ein Kind ertragen, aber er verhält sich nicht anders.
Dann müssen wir es eben noch einmal versuchen, sagte Lerian.
Aviendha ließ ihren Stein auf den Haufen neben dem Wachtposten fallen und drehte sich um. Sie beachtete die Töchter nicht, die den Lagereingang beobachteten, und sie beachteten sie ebenfalls nicht. Sich mit ihr während ihrer Strafe zu unterhalten, würde nur ihre Schande erhöhen, und ihre Speerschwestern würden das nicht tun.
Sie ließ sich auch nicht anmerken, dass sie die Unterhaltung verstand. Natürlich erwartete keiner, dass eine ehemalige Tochter die Handsprache vergaß, aber besser, man hielt sich zurück. Die Handsprache gehörte den Töchtern.
An einem zweiten Haufen wählte Aviendha einen großen Stein aus und ging zurück ins Lager. Sie wusste nicht, ob die Töchter ihre Unterhaltung fortsetzten, da sie ihre Hände nicht mehr sehen konnte. Aber ihre Diskussion ließ sie nicht los. Es ärgerte die Töchter, dass Rand al'Thor ohne Leibwächter zu seinem Treffen mit General Rodel Ituralde gegangen war. Es war nicht das erste Mal, dass er so unvernünftig handelte, und doch schien er nicht lernen zu wollen, wie man es richtig machte. Oder er konnte es einfach nicht. Jedes Mal, wenn er sich ohne Schutz in Gefahr begab, beleidigte er die Töchter genauso schlimm, als hätte er jeder von ihnen ins Gesicht geschlagen.
Möglicherweise schuldete Aviendha ihren Speerschwestern ja ein kleines Toh. Es war ihre Aufgabe gewesen, Rand al'Thor die Bräuche der Aiel beizubringen, und sie hatte offensichtlich versagt. Leider schuldete sie den Weisen Frauen ein viel größeres Toh, obwohl sie den Grund dafür noch immer nicht kannte. Die geringere Pflicht ihren Speerschwestern gegenüber würde warten müssen.
Ihre Arme schmerzten vom Schleppen. Die Steine waren glatt und schwer; man hatte von ihr verlangt, sie aus dem Fluss neben dem Herrenhaus auszugraben. Allein die mit Elayne verbrachte Zeit - als sie gezwungen gewesen war, in Wasser zu baden - hatte ihr die Kraft gegeben, in diesen Fluss zu schreiten. Damit hatte sie keine Schande auf sich geladen. Und wenigstens war es ein kleiner Fluss gewesen - Feuchtländer hätten ihn fälschlicherweise als Bach bezeichnet. Eine winzige Bergquelle, in der man sich die Hände waschen oder einen Wasserschlauch füllen konnte. Alles, das zu groß war, um es mit einem Schritt zu überqueren, war definitiv ein Fluss.
Wie gewöhnlich war der Tag bewölkt, und im Lager herrschte gedrückte Stimmung. Männer, die noch Tage zuvor bei der Ankunft der Aiel umhergeeilt waren, erschienen nun viel lethargischer. Das bedeutete nicht, dass das Lager unordentlich gewesen wäre; Davram Bashere war zwar ein Feuchtländer, aber er war auch ein viel zu erfahrener Kommandant, um so etwas zuzulassen. Doch die Männer bewegten sich langsamer. Aviendha hatte mitbekommen, wie sich einige darüber beschwerten, dass der dunkle Himmel ihrem Gemüt zu schaffen machte. Wie seltsam die Feuchtländer doch waren! Was hatte das Wetter denn mit dem Gemüt zu tun? Sie konnte verstehen, dass man unzufrieden war, weil keine Raubzüge anstanden oder weil eine Jagd ein schlechtes Ergebnis gebracht hatte. Aber weil Wolken den Himmel verdeckten? Wurde der Schatten hier so wenig geschätzt?
Sie schüttelte den Kopf und ging weiter. Sie hatte Steine gewählt, die ihre Muskeln anstrengten. Sonst hätte sie ihre Strafe nicht ernst genommen, und das kam nicht infrage - auch wenn jeder Schritt ihre Ehre schmerzen ließ. Sie musste das ganze Lager durchqueren, wo sie jeder sehen konnte, und eine völlig sinnlose Tätigkeit verrichten! Lieber hätte sie sich allen nackt vor einem Schweißzelt zur Schau gestellt. Lieber wäre sie tausend Sprünge gelaufen oder so hart geschlagen worden, dass sie nicht mehr laufen konnte.
Sie erreichte das Herrenhaus und legte ihren Stein mit einem unterdrückten Seufzen ab. Zwei Soldaten aus Basheres Armee bewachten den Eingang, das Äquivalent zu den beiden Töchtern am anderen Ende von Aviendhas Weg. Als sie sich bückte und einen großen Stein von einem zweiten Haufen an der Wand auswählte, lauschte sie ihrer Unterhaltung.
»Verflucht, es ist heiß«, beschwerte sich einer der Männer.
»Heiß?«, erwiderte der andere und schaute in den bewölkten Himmel. »Du scherzt.«
Der erste Wächter wedelte sich mit der Hand Luft zu, pustete und schwitzte. »Wie kannst du das nicht fühlen?«
»Du musst Fieber haben oder so.«
Der erste Wächter schüttelte den Kopf. »Ich mag nur die Hitze nicht, das ist alles.«
Aviendha nahm ihren Stein und trat den Rückweg quer über den Rasen an. Nach einigem Überlegen war sie zu dem Schluss gekommen, dass man nur ein richtiger Feuchtländer sein konnte, wenn man eine Eigenschaft hatte, die sie alle verband: man musste sich gern beklagen. Während der ersten Monate ihres Aufenthalts bei den Feuchtländern hatte sie das als entehrend empfunden. War es diesem Wächter denn völlig egal, dass er vor seinem Kameraden das Gesicht verlor, indem er allen seine Schwäche zeigte?
Sie waren alle so, selbst Elayne. Wenn man ihr zuhörte, wie sie sich über die Schmerzen, Übelkeit und Einschränkungen ihrer Schwangerschaft beklagte, hätte man glauben können, dass sie dem Tod immer näher kam! Aber wenn sich ausgerechnet Elayne beklagte, dann weigerte sich Aviendha, es als Zeichen der Schwäche zu akzeptieren. Ihre Erstschwester würde sich nicht so ehrlos benehmen.
Also musste darin irgendwo eine verborgene Ehre liegen. Vielleicht enthüllten die Feuchtländer ihren Kameraden ihre Schwächen ja, um Freundschaft und Vertrauen anzubieten. Wenn deine Freunde deine Schwächen kannten, würde ihnen das helfen, sollte man zusammen den Tanz der Speere tanzen. Aber vielleicht war dieses ständige Klagen auch nur die Art der Feuchtländer, Demut zu zeigen, so wie die Gai'schain durch ihre Unterwürfigkeit Ehre bewiesen.
Elayne hatte sie ihre Theorien vorgetragen und nur ein Lachen voller Zuneigung geerntet. War das ein Aspekt der Feuchtländergesellschaft, den ihre Erstschwester nicht mit Außenseitern besprechen durfte? Oder hatte Elayne gelacht, weil sie etwas herausgefunden hatte, das sie nicht hätte herausfinden dürfen?
Was nun auch zutraf, es war offensichtlich eine Methode, Ehre zu zeigen, und das hatte Aviendha zufriedengestellt. Wäre ihr Problem mit den Weisen Frauen doch nur so simpel gewesen! Von Feuchtländern erwartete man, dass sie auf unvorhersehbare, unnatürliche Weise handelten. Aber was sollte sie machen, wenn sich die Weisen Frauen so seltsam verhielten?
Langsam verspürte sie Unmut - nicht wegen der Weisen Frauen, sondern mit sich selbst. Sie war stark und mutig. Natürlich nicht so mutig wie andere; sie konnte nur davon träumen, so mutig wie Elayne zu sein. Trotzdem fielen ihr nur wenige Probleme ein, die sie nicht mit dem Einsatz ihrer Speere, der Einen Macht oder ihrem Verstand hätte lösen können. Und doch hatte sie völlig darin versagt, ihre derzeitige Misere zu entschlüsseln.
Sie erreichte die andere Seite des Lagers und legte ihren Stein ab, rieb sich die Hände sauber. Die Töchter standen reglos und nachdenklich da. Aviendha ging zu dem anderen Haufen und nahm einen länglichen Stein mit kantigem Rand. Er war drei Handspannen breit, und die glatte Oberfläche drohte ihr aus den Fingern zu rutschen. Sie musste mehrmals umgreifen, bevor sie einen guten Halt gefunden hatte. Sie ging zurück über das zertrampelte Wintergras, vorbei an den saldaeanischen Zelten in Richtung Herrenhaus.
Elayne wäre bestimmt der Ansicht gewesen, dass sie das Problem nicht richtig durchdacht hatte. Wo andere Leute nervös waren, war Elayne ruhig und nachdenklich. Manchmal ging es Aviendha auf die Nerven, wie gern ihre Erstschwester über die Dinge redete, bevor sie sich zu einer Handlung entschloss. Ich muss mehr wie sie sein. Ich darf nicht vergessen, dass ich keine Tochter des Speers mehr bin. Ich kann nicht mit erhobener Waffe irgendwo reinstürmen.
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