»Verflucht!«, brüllte jemand. Aviendha sah auf. Rand al'Thor schritt durch das zerbrochene Loch, das jetzt die Vorderseite des Herrenhauses bildete. Er starrte in den Himmel und drohte mit der Faust. »Ich bin es, den ihr wollt! Ihr bekommt euren Krieg noch früh genug!«
»Rand«, sagte Aviendha zögernd. Soldaten liefen auf dem Rasen herum und sahen besorgt aus, als rechneten sie mit einer Schlacht. Verwirrte Diener spähten aus den Fenstern. Der ganze Zwischenfall mit dem Feuer hatte keine fünf Minuten gedauert.
»Ich halte euch auf!«, donnerte Rand, was Soldaten wie Diener Angstrufe ausstoßen ließ. »Hört ihr mich? Ich komme euch holen! Verschwendet eure Macht nicht! Ihr werdet sie gegen mich brauchen!«
»Rand!«, rief Aviendha.
Er erstarrte, dann sah er wie benommen auf sie herunter. Sie erwiderte seinen Blick und konnte seinen Zorn fühlen, so wie sie noch eben die Flammen gespürt hatte. Ruckartig drehte er sich um, ging zurück ins Haus und stieg die geschwärzten Stufen hinauf.
»Beim Licht!«, sagte eine nervöse Stimme. »Geschieht so etwas oft, wenn er in der Nähe ist?«
Aviendha drehte sich um. Ein junger Mann in einer unbekannten Uniform stand da und sah zu. Er war schlank, hatte hellbraunes Haar und kupferfarbene Haut - sie erinnerte sich nicht an seinen Namen, war sich aber ziemlich sicher, dass er einer der Offiziere war, die Rand nach seiner Begegnung mit Rodel Ituralde mitgebracht hatte.
Sie wandte sich wieder den Trümmern zu, hörte, wie in der Ferne Soldaten Befehle riefen. Bashere war eingetroffen und übernahm das Kommando, brüllte Männern zu, das Lager zu sichern, obwohl er sie vermutlich nur beschäftigen wollte. Das war nicht der Beginn eines Angriffs. Da hatte der Dunkle König nur wieder einmal die Welt berührt, so wie Fleisch, das verdarb, Käfer und Ratten, die aus dem Nichts kamen, und Männer, die seltsame Krankheiten dahinrafften.
»Ja«, sagte Aviendha, um die Frage des Mannes zu beantworten, »so etwas geschieht oft. Öfter in der Nähe des Car'a'carn als an anderen Orten. Gab es bei Euren Männern ähnliche Geschehnisse?«
»Ich habe Geschichten gehört«, sagte er. »Aber ich wollte sie nicht glauben.«
»Nicht alle Geschichten sind Übertreibungen.« Sie betrachtete die geschwärzten Überreste des Türwächters. »Das Gefängnis des Dunklen Königs ist schwach.«
»Verfluchte Asche«, sagte der junge Mann und wandte sich ab. »Wo habt Ihr uns nur da reingezogen, Rodel?« Er schüttelte den Kopf und ging.
Basheres Offiziere fingen an, Befehle zu geben, teilten Männer ein, um aufzuräumen. Würde Rand jetzt aus dem Haus ausziehen? Nach dem Erscheinen von Blasen des Bösen wollten die Menschen oft weg. Aber Aviendhas Bund mit Rand verriet ihr keine Dringlichkeit. Tatsächlich ... hatte es den Anschein, als hätte er sich wieder zur Ruhe begeben. Die Stimmungen des Mannes wurden genauso sprunghaft wie Elaynes während ihrer Schwangerschaft.
Sie schüttelte den Kopf und fing an, verbranntes Holz einzusammeln, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen. Mehrere Aes Sedai kamen aus dem Gebäude und inspizierten den Schaden. Die ganze Vorderseite war mit schwarzen Streifen übersät, und das schwarze Loch, das sich nun dort befand, wo zuvor der Eingang gewesen war, maß mindestens fünfzehn Schritte. Eine der Frauen musterte Aviendha anerkennend. Es war Merise. »Eine Schande«, sagte sie.
Aviendha richtete sich auf, ein Stück verkohltes Holz in der Hand. Ihre Kleidung war noch immer klatschnass. Bei diesen Wolken, die die Sonne verdeckten, würde es lange dauern, bis sie wieder trocken war. »Eine Schande?«, wiederholte sie. »Wegen dem Haus?« Lord Tellaen, der Besitzer, hockte auf einem Schemel im Eingang, jammerte leise vor sich hin, fuhr sich über die Stirn und schüttelte unablässig den Kopf.
»Nein«, sagte Merise. »Es ist eine Schande mit Euch, Kind. Euer Geschick mit Geweben ist beeindruckend. Hätten wir Euch in der Weißen Burg gehabt, wärt Ihr mittlerweile eine Aes Sedai. Euer Weben ist zwar teilweise etwas grob, aber Ihr würdet schnell lernen, das zu bereinigen, wenn Euch Schwestern unterrichteten.«
Ein deutlich hörbares Schnauben ließ Aviendha herumfahren. Melaine stand hinter ihr. Die blonde Weise Frau hatte die Arme unter der Brust verschränkt, und ihrem leicht vorgewölbten Bauch war deutlich das in ihr wachsende Kind anzusehen. Melaine war offensichtlich nicht amüsiert. Wie hatte diese Frau nur in ihre Nähe gelangen können, ohne dass sie es bemerkte? Ihre Erschöpfung machte sie sorglos.
Melaine und Merise starrten einander einen langen Moment an, dann fuhr die hochgewachsene Aes Sedai mit rauschenden grünen Röcken herum und begab sich zu einer Gruppe Diener, denen die Flammen den Fluchtweg versperrt hatten, erkundigte sich, ob jemand Geheilt werden musste. Melaine sah ihr nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Eine unerträgliche Frau!«, murmelte sie. »Wenn man bedenkt, was wir einst von ihnen hielten!«
»Weise Frau?«, fragte Aviendha.
»Ich bin stärker als die meisten Aes Sedai, Aviendha, und du bist viel stärker, als ich es bin. Du verstehst und kontrollierst Gewebe auf eine Weise, die die meisten von uns beschämt. Andere lernen nur mühsam das, was dir nur so zufliegt. ›Euer Weben ist etwas grob‹, sagte sie! Ich bezweifle, dass auch nur eine der Aes Sedai, ausgenommen vielleicht Cadsuane Sedai, das zustande gebracht hätte, was du mit dieser Wassersäule gemacht hast. Um Wasser so weit zu bewegen, musstest du den Druck des Flusses selbst benutzen.«
»Das habe ich getan?«, fragte Aviendha und blinzelte.
Melaine musterte sie, dann schnaubte sie wieder, dieses Mal aber leise und auf sich selbst gemünzt. »Ja, das hast du getan. Du hast ein so großes Talent, Kind.«
Das Lob ließ Aviendha beinahe vor Stolz platzen; Weise Frauen lobten nur selten, dafür meinten sie es dann aber immer ehrlich.
»Aber du willst einfach nicht lernen«, fuhr Melaine fort. »Es ist nicht mehr viel Zeit! Ich will dir eine Frage stellen. Was hältst du von Rand al'Thors Plan, diese Kaufmannshäuptlinge der Domani zu entführen?«
Aviendha blinzelte wieder; sie war so müde, dass es ihr schwerfiel, vernünftig nachzudenken. Zuerst einmal widersprach es überhaupt dem gesunden Menschenverstand, dass die Domani Kaufleute als Anführer benutzten. Wie sollte ein Kaufmann Leute anführen können? Mussten sich Kaufleute nicht auf ihre Waren konzentrieren? Es war albern. Würden die Feuchtländer denn niemals aufhören, sie mit ihren seltsamen Sitten zu verwirren?
Und warum fragte Melaine sie das ausgerechnet jetzt?
»Sein Plan scheint gut zu sein, Weise Frau«, sagte Aviendha. »Aber es gefällt den Speeren nicht, als Entführer benutzt zu werden. Ich finde, der Car'a'carn hätte es besser so ausgedrückt, dass man den Kaufleuten Schutz anbietet, erzwungenen Schutz. Es hätte den Häuptlingen besser gefallen, wenn man ihnen gesagt hätte, dass sie beschützen sollen und nicht entführen.«
»Sie würden das Gleiche tun, ganz egal wie man es nennt.«
»Aber es ist wichtig, wie man Dinge nennt«, meinte Aviendha. »Es ist nicht unehrlich, wenn beide Definitionen zutreffen.«
Melaines Augen funkelten, und Aviendha entdeckte den Hauch eines Lächelns in ihren Mundwinkeln. »Wie fandest du die Besprechung sonst?«
»Rand al'Thor scheint noch immer der Ansicht zu sein, dass der Car'a'carn wie ein König der Feuchtländer Entscheidungen treffen kann. Das ist meine Schuld. Ich habe es nicht auf die richtige Weise erklärt.«
Melaine winkte ab. »Da hast du keine Schande auf dich geladen. Wir wissen doch alle, wie stur der Car'a'carn ist. Die Weisen Frauen haben es auch versucht, und keine konnte ihn vernünftig ausbilden.«
Also. Auch das war nicht der Grund für die Schande, die sie den Weisen Frauen gemacht hatte. Was war es dann? Aviendha unterdrückte ein entnervtes Stöhnen und zwang sich dazu fortzufahren. »Trotzdem muss er daran erinnert werden. Immer wieder. Rhuarc ist ein weiser und geduldiger Mann, aber das trifft nicht auf alle Clanhäuptlinge zu. Ich weiß, dass sich einige fragen, ob es die richtige Entscheidung war, Rand al'Thor zu folgen.«
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