»Das stimmt«, sagte Melaine. »Aber sieh dir an, was aus den Shaido wurde.«
»Ich habe nicht gesagt, dass sie recht haben, Weise Frau.« Ein paar Soldaten versuchten zögernd, den glasigen schwarzen Hügel vom Boden zu lösen. Anscheinend war er mit der Erde verschmolzen. Aviendha senkte die Stimme. »Es ist falsch von ihnen, den Car'a'carn anzuzweifeln, aber sie reden miteinander. Rand al'Thor muss erkennen, dass sie nicht eine Beleidigung nach der anderen endlos schlucken werden. Vielleicht wenden sie sich nicht gegen ihn wie die Shaido, aber es würde mich nicht überraschen, sollte etwa Timolan einfach ins Dreifache Land zurückkehren und den Car'a'carn seiner Arroganz überlassen.«
Melaine nickte. »Mach dir da mal keine Sorgen. Wir sind uns dieser ... Möglichkeit bewusst.«
Das bedeutete, dass man Weise Frauen losgeschickt hatte, um Timolan, den Häuptling der Miagoma Aiel, zu beschwichtigen. Es würde nicht das erste Mal sein. Wusste Rand al'Thor eigentlich, wie sehr sich die Weisen Frauen hinter seinem Rücken bemühten, die Loyalität der Aiel aufrechtzuerhalten? Vermutlich nicht. Er sah sie alle als homogene Gruppe, die ihm verschworen war und benutzt werden konnte. Das war eine von Rands größten Schwächen. Er konnte nicht begreifen, dass Aiel genauso wenig wie andere Menschen auch gern als Werkzeuge benutzt wurden. Die Clans waren viel weniger miteinander verbunden, als er glaubte. Seinetwegen hatte man Blutfehden hintangestellt. Konnte er denn nicht begreifen, wie unglaublich das war? Sah er denn nicht, wie zerbrechlich diese Allianz auch weiterhin war?
Aber er war nicht nur von Geburt Feuchtländer, er war auch keine Weise Frau. Wenige Aiel sahen die Arbeit, die die Weisen Frauen auf Dutzenden verschiedenen Gebieten verrichteten. Wie einfach war Aviendha doch das Leben erschienen, als sie noch eine Tochter gewesen war! Damals hätte sie es maßlos verblüfft, hätte sie erfahren, was da alles hinter ihrem Rücken vorging.
Melaine starrte das beschädigte Gebäude an. »Das Relikt eines Relikts«, sagte sie, als würde sie mit sich selbst sprechen. »Und wenn er uns verbrannt und zerstört zurücklässt, so wie diese Bretter? Was wird dann aus den Aiel? Schleppen wir uns zurück ins Dreifache Land und machen so weiter wie zuvor? Viele werden nicht gehen wollen. Diese Länder können so viel bieten.«
Das Gewicht dieser Worte ließ Aviendha blinzeln. Sie hatte kaum darüber nachgedacht, was wohl geschehen würde, nachdem der Car'a'carn mit ihnen fertig war. Sie konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt, darauf, ihre Ehre zurückzugewinnen und da zu sein, um Rand al'Thor in der Letzten Schlacht zu beschützen. Aber eine Weise Frau konnte nicht nur an das Jetzt oder das Morgen denken. Sie musste an die vor ihnen liegenden Jahre und die Zeiten denken, die ihnen der Wind bringen würde.
Das Relikt eines Relikts. Er hatte die Aiel als ein Volk zerbrochen. Was würde aus ihnen werden?
Melaine musterte sie wieder; ihre Miene wurde weicher. »Geh zu den Zelten und ruh dich aus, Kind. Du siehst aus wie ein Sharadan, der drei Tage auf dem Bauch über den Sand gekrochen ist.«
Aviendha sah auf ihre Arme herab, entdeckte die Ascheflocken von dem Brand. Ihre Kleidung war nass und schmutzig, und sie vermutete, dass ihr Gesicht genauso dreckig war. Ihre Arme schmerzten vom Steineschleppen. Sobald sie sich ihrer Erschöpfung bewusst wurde, schien sie wie ein Windsturm über sie hereinzubrechen. Sie biss die Zähne zusammen und zwang sich, aufrecht stehen zu bleiben. Sie würde sich nicht dadurch entehren, dass sie zusammenbrach! Aber sie wandte sich wie befohlen ab, um zu gehen.
»Oh, eines noch, Aviendha«, rief Melaine. »Wir reden morgen über deine Strafe.«
Entsetzt drehte sie sich um.
»Weil du mit den Steinen nicht fertig geworden bist«, sagte Melaine und betrachtete wieder die Zerstörungen. »Und weil du nicht schnell genug lernst. Geh.«
Aviendha seufzte. Eine weitere Runde Fragen, eine weitere unverdiente Strafe. Es gab also einen Zusammenhang. Aber wie sah er aus?
Im Moment war sie zu erschöpft, um darüber nachzudenken. Sie wollte bloß noch in ihr Bett und ertappte sich dabei, wie sie verräterischerweise an die weiche, luxuriöse Matratze im Palast von Caemlyn dachte. Sie verbannte diese Gedanken. Wenn man so tief schlief, an Kissen und weiche Decken geschmiegt, dann war man viel zu entspannt, um aufzuwachen, wenn jemand einen in der Nacht ermorden wollte! Wie hatte sie sich nur von Elayne dazu überreden lassen können, in diesen weichgefederten Todesfallen zu schlafen?
Als sie diesen Gedanken verdrängte, kam ihr noch ein anderer - ein verräterischer. Der Gedanke an Rand al'Thor, der sich in seinem Zimmer ausruhte. Sie konnte zu ihm gehen ...
Nein! Nicht, bevor sie ihre Ehre zurückgewonnen hatte. Sie würde nicht als Bittstellerin zu ihm gehen. Sie würde als eine Frau mit Ehre zu ihm gehen. Vorausgesetzt, sie würde je entdecken, was sie falsch machte.
Sie schüttelte den Kopf und marschierte zu dem Aiellager auf der anderen Seite des Rasens.
12
Unerwartete Begegnungen
Gedankenverloren schritt Egwene durch die höhlenartigen Korridore der Weißen Burg. Ihre beiden Roten Kerkerwärterinnen folgten ihr. Sie erschienen dieser Tage etwas mürrisch. Elaida befahl ihnen immer häufiger, bei Egwene zu bleiben; auch wenn die Personen wechselten, waren stets zwei bei ihr. Und doch hatte es beinahe den Anschein, als könnten sie spüren, dass Egwene sie als Diener und nicht als Wächter betrachtete.
Es war mehr als einen Monat her, seit Siuan ihr in Tel'aran'rhiod die verstörenden Neuigkeiten mitgeteilt hatte, aber noch immer dachte sie darüber nach. Die Geschehnisse waren eine Mahnung, dass die Welt zerbrach. In dieser Zeit hätte die Weiße Burg eine Quelle der Stabilität sein sollen. Stattdessen hatte sie sich entzweit, während Rand al'Thors Männer Schwestern den Bund aufzwangen. Wie hatte Rand nur so etwas zulassen können? Offensichtlich war nur noch wenig von dem Jungen übrig, mit dem sie zusammen aufgewachsen war. Natürlich war auch nur noch wenig von der jugendlichen Egwene übrig. Lange vorbei die Tage, in denen sie scheinbar dazu bestimmt gewesen waren, zu heiraten und auf einem kleinen Bauernhof in den Zwei Flüssen zu leben.
Seltsamerweise brachte sie dieser Gedanke auf Gawyn. Wie lange war es her, dass sie ihn zuletzt gesehen und in Cairhien Küsse gestohlen hatte? Wo war er jetzt? War er in Sicherheit?
Konzentriere dich, befahl sie sich. Wische zuerst den Boden fertig, an dem du gerade arbeitest, bevor du mit dem Rest des Hauses anfängst. Gawyn konnte auf sich selbst aufpassen; darin war er schon in der Vergangenheit kompetent gewesen. In manchen Fällen zu kompetent.
Siuan und die anderen würden sich um die Sache mit den Asha'man kümmern. Die anderen Neuigkeiten waren viel beunruhigender. Eine der Verlorenen im Lager? Eine Frau, die Saidin statt Saidar lenkte? Einst hätte sie das für unmöglich gehalten. Aber in den Sälen der Weißen Burg waren ihr Geister begegnet, und die Korridore schienen sich täglich zu verändern. Das war nur ein weiteres Zeichen.
Sie fröstelte. Halima hatte sie angefasst, hatte angeblich ihre Kopfschmerzen wegmassiert. Diese Kopfschmerzen waren nach ihrer Gefangennahme verschwunden; warum war ihr nie die Idee gekommen, dass Halima überhaupt erst für sie verantwortlich war? Was hatte die Frau sonst noch geplant? Über welche verborgenen Knoten würden die Aes Sedai stolpern, welche Fallen hatte sie gestellt?
Ein Stück des Bodens nach dem anderen. Mach sauber, wo du rankommst, dann geh weiter. Siuan und die anderen würden sich auch um Halimas Pläne kümmern müssen.
Egwenes Hintern schmerzte, aber die Schmerzen hatten eine immer geringere Bedeutung für sie. Manchmal lachte sie, wenn man sie schlug, manchmal auch nicht. Der Riemen war unwichtig. Der größere Schmerz - was man Tar Valon angetan hatte - setzte ihr viel mehr zu. Sie nickte einer Gruppe weißgekleideter Novizinnen zu, die ihr entgegenkamen, und sie machten einen Knicks. Egwene runzelte die Stirn, rief sie aber nicht zur Ordnung - sie hoffte nur, dass die Roten in ihrem Schlepptau ihnen keine Buße auferlegten, weil sie Egwene ihre Ehrerbietung erwiesen.
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