Ich wurde erwachsen und verliebte mich in die wunderbarste Frau der Welt, mit der ich bald verheiratet war. Sie schenkte mir einen ganz anderen Schatz, eine Tochter - Richards Mutter. Für einen jungen Zauberer gab es in der Burg stets mehr zu tun, als man in den Stunden eines Tages erledigen konnte. Ich hatte keine Zeit übrig, die ich zwischen den alten Knochen hätte verbringen können. Und dann kam es zu diesem fürchterlichen Krieg mit D’Hara. Es folgte eine Zeit erbitterter Kämpfe. Ich war Oberster Zauberer geworden. Die Schlachten waren schauerlich. Ich musste Männer in den Tod schicken. Ich musste jungen und alten Zauberern in die Augen sehen, von denen ich wusste, dass sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen waren, ihnen sagen, dass sie ihr Bestes geben sollten, obwohl ich wusste, es würde nicht genügen und sie würden aller Wahrscheinlichkeit nach den Tod finden. Ich selbst, so wusste ich im tiefsten Herzen, hätte diese Aufgaben wohl bewältigt, aber es gab zu viel zu tun, und ich war nun einmal nur einer.
Nicht selten empfand ich meine Verantwortung, mein Wissen und Talent als Fluch. All den unschuldigen Menschen, die mich Oberster Zauberer nannten, ins Gesicht zu schauen, in der Gewissheit, mein Scheitern würde ihren Tod bedeuten, war mehr, als ich ertragen konnte.
In dieser Hinsicht weiß ich genau, was Richard durchmacht. Früher habe ich seine Stelle eingenommen. Ich habe die Welt auf meinen Schultern getragen.«
Mit einer Handbewegung beendete er seine melancholische Abschweifung vom Thema. »Jedenfalls gerieten die Katakomben wegen meiner anderen Verpflichtungen wieder in Vergessenheit, wie schon seit Tausenden von Jahren, ehe ich auf sie gestoßen war. Ich hatte einfach keine Zeit, mich dort unten umzuschauen. Nach meinen Erkundungen als Junge glaubte ich, es gebe sowieso nur alte und vergleichsweise unwichtige Bücher, die zusammen mit Gebeinen vergraben waren. Stattdessen hatte ich mich um dringlichere Angelegenheiten zu kümmern, bei denen es um Tod und Leben ging. Für mich war vor allem der geheime Eingang durch die Katakomben zur Burg wichtig. Dieser Gang hatte seinen unschätzbaren Wert gezeigt, als die Schwestern der Finsternis die Burg der Zauberer eingenommen hatten.
Damals, ich war noch jünger, und der Krieg, dem auch meine Frau zum Opfer gefallen war, hatte gerade erst sein Ende gefunden, hatten der Rat und ich einen heftigen Streit wegen der Kästchen der Ordnung. Und dann ... vergewaltigte Darken Rahl meine Tochter. Ich verließ die Midlands für alle Zeiten und brachte meine Tochter über die Grenze nach Westland. Sie war alles, was ich noch hatte und was mir etwas bedeutete. Ich glaubte, den Rest meiner Tage jenseits der Grenze im Westland zu verbringen.
Richard wurde geboren. Ich sah ihm beim Aufwachsen zu. Meine Tochter war so stolz auf ihn. Insgeheim war ich besorgt, er könnte die Gabe haben, und fürchtete, die Mächte von jenseits der Grenze könnten eines Tages kommen und nach ihm suchen. Und dann gab es ein Feuer wie aus heiterem Himmel, und schon hatte ich meine Tochter und Richard seine Mutter verloren.
Ich tröstete mich mit Richard. Ihm gab ich alles, was ich konnte, damit er sich zu dem entfaltete, was in ihm steckte. Mit ihm habe ich die schönste Zeit meines Lebens verbracht.
Von mir unbemerkt, da ich die Außenwelt nach Kräften zu vergessen suchte, hatten Ann und Nathan, von Prophezeiungen getrieben, George Cypher geholfen, Das Buch der gezählten Schatten aus der Burg der Zauberer zu bergen. Es befand sich in der privaten Enklave des Obersten Zauberers, wo ich es sicher verstaut hatte.«
»Augenblick«, unterbrach ihn Nicci. »Wollt Ihr damit sagen, Das Buch der gezählten Schatten, eines der wichtigsten Bücher überhaupt, lag einfach in der Burg herum?«
»Nun«, antwortete Zedd, »›herumliegen‹ ist wohl nicht der treffende Ausdruck. Wie ich schon sagte, es befand sich in der Enklave des Obersten Zauberers. Dieser Ort ist noch sicherer als die übrige Burg, und man kann dort nicht so ohne weiteres eindringen.«
»Wenn der Ort so sicher ist«, sagte Nicci, »wie haben Ann und Nathan sich das Buch dann mit George Cypher holen können?«
Zedd seufzte und blickte sie unter seinen buschigen Augenbrauen hervor an. »Das hat mir auch Sorgen bereitet ... die einzige Abschrift eines Buches von solcher Bedeutung, und so ungeschützt...«
»Das wollte Richard Euch sagen«, meinte Nicci, die plötzlich begriff. »Deshalb hatte er es so eilig, hierher zurückzukommen. Er hat gesagt, er müsse sofort zu Euch. Ja, das war der Grund!«
Zedd runzelte die Stirn. »Wovon sprecht Ihr?«
Sie trat näher an den Zauberer heran und zog das kleine Buch aus ihrer Tasche. »Dies ist das Buch, mit dem Darken Rahl die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht hat...«
»Was?«
»Mit diesem Buch hat Darken Rahl die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht«, wiederholte sie für den verblüfften Zauberer. »Wir haben es im Palast des Volkes gefunden. Ich versprach Richard, es zu studieren und danach zu forschen, ob es eine Möglichkeit gibt, ungeschehen zu machen, was Schwester Ulicia getan hat, und ob man die Kästchen der Ordnung vielleicht wieder aus dem Spiel nehmen könne. Ich habe versucht, Richard zu erklären, dass Magie auf diese Weise nicht funktioniert, aber Ihr kennt Richard, er findet sich nicht so leicht damit ab, dass etwas nicht möglich ist.«
Zedd starrte das Buch an, das sie in die Höhe hielt, als wäre es eine Schlange, die beißen könnte. »Also dieser Junge braucht wirklich nur einen Stein umzudrehen, und schon stößt er auf Schwierigkeiten.«
»Zedd, hier steht eine Warnung: Um dieses Buch zu benutzen, müsse man den Schlüssel verwenden. Ohne den Schlüssel wird sonst alles, was vorher kam - also was von dem Buch schon benutzt wurde nicht nur unbrauchbar, sondern sogar tödlich sein. Es heißt, binnen eines Jahres müsse der Schlüssel benutzt werden, um zu vollenden, was mit diesem Buch gewirkt wurde.«
»Der Schlüssel«, flüsterte Zedd, als würde er das Ende der Welt bedeuten. »Die Kästchen müssen innerhalb eines Jahres geöffnet werden, nachdem sie ins Spiel gebracht wurden. Man braucht Das Buch der gezählten Schatten, um die Kästchen zu öffnen. Demnach muss das Buch der Schlüssel sein.«
»Ich glaube auch«, sagte Nicci. »Allerdings sind wir auf Hinweise gestoßen, dass zur Zeit des großen Krieges einige Zauberer insgesamt fünf Abschriften von dem ›Buch, das nie kopiert werden darf‹, angefertigt haben.«
»Und Ihr denkt, ›das Buch, das nie kopiert werden darf‹ sei Das Buch der gezählten Schatten!«
»Ja. Es gibt ein Buch mit Prophezeiungen, in dem steht: ›... und sie werden zittern vor Angst über ihr Tun und den Schatten des Schlüssels zwischen die Gebeine fallen lassen‹.«
Zedd starrte sie an. »Bei den Gütigen Seelen. Das klingt wie aus Yanklees abenteuerliche Erzählungen.«
»Stimmt. Allerdings«, fuhr Nicci fort, »waren alle Abschriften außer einer unkorrekt. Fünf Kopien - vier fehlerhaft, eine richtig.«
Zedd presste eine Hand gegen die Stirn. Nicci bemerkte, dass er schneller atmete als gewöhnlich. Wie er aussah, würde er im nächsten Moment in Ohnmacht fallen.
»Zedd, was ist los?«
Seine Hände zitterten. »Ihr habt eben gesagt, Das Buch der gezählten Schatten sei leicht zu stehlen gewesen. Das habe ich auch immer gedacht, jedoch habe ich mich nie weiter damit beschäftigt. Es war eher einer dieser Gedanken, die man im Hinterkopf hat und die nie wirklich bis ins Bewusstsein vordringen.«
»Ja«, sagte Nicci ungeduldig.
»Nun, als ich mich an Das Buch der Umkehrungen und Dopplungen erinnerte, fiel mir ein, wo ich es als Junge gesehen habe: in den Katakomben. Ich musste diesen Bann prüfen, und während Ihr mit Richard im Palast des Volkes wart, ging ich in die Katakomben und suchte danach.«
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