Kaum hatten er und Johnrock ihre Mahlzeit beendet, nahte Kommandant Karg mit stapfenden Schritten durch den Morast. »Raus da! Alle miteinander!«
Richard und Johnrock krabbelten unter dem Wagen hervor in den Nieselregen. Andere Gefangene bei den Wagen rechts und links von ihnen erhoben sich und warteten darauf, dass der Kommandant ihnen erklärte, was er wollte. Die zur Mannschaft gehörenden Soldaten rückten näher zusammen.
»Wir erwarten Besuch«, verkündete Kommandant Karg.
»Was denn für Besuch?«, wollte einer der Soldaten wissen.
»Der Kaiser wird die für das Turnier eingetroffenen Mannschaften inspizieren. Kaiser Jagang und ich kennen uns schon sehr lange. Ich erwarte von euch, dass ihr ihm den Beweis liefert, dass ich eine würdige Mannschaft zusammengestellt habe. Wer kein gutes Licht auf mich wirft oder es am nötigen Respekt für unseren Kaiser fehlen lässt, ist für mich nutzlos.«
Ohne ein weiteres Wort eilte der Kommandant von dannen. Richard fühlte sich plötzlich unsicher auf den Beinen, und sein Herz schlug heftig. Würde Kahlan Jagang begleiten, wie schon tags zuvor? So sehr er sich wünschte, sie wiederzusehen, so zuwider war ihm die Vorstellung, dass sie sich in der Nähe dieses Mannes aufhielt -oder überhaupt in der Nähe eines dieser Kerle.
Als stellvertretende Befehlshaberin der D’Haranischen Streitkräfte hatte Kahlan Kaiser Jagang nicht nur den ansonsten längst gewissen Sieg verwehrt, sondern sich aufgrund der ihm zugefügten Verluste auch seinen ewigen Hass zugezogen. Wäre sie nicht gewesen, hätte die Imperiale Ordnung die D’Haranische Armee vermutlich längst aufgerieben.
Er versuchte gefasst zu wirken, lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Wagen und wartete. Kurz darauf erblickte er einen Umzug, der sich links von ihm in einiger Entfernung einen Weg durch das Feldlager bahnte. Die Personen schritten die Reihe der Mannschaften ab und machten in regelmäßigen Abständen kurz Halt, um sie genauer in Augenschein zu nehmen.
Nach dem Typ von Kriegern zu urteilen, konnte es sich um niemand anderen als den Kaiser und sein Gefolge handeln. Er erkannte die kaiserliche Leibgarde vom Vortag wieder, als sie bei ihrem Einzug in das Lager unmittelbar an Jagang vorübergekommen waren. Bei dieser Gelegenheit hatte er auch Kahlan kurz gesehen. Mit ihren Kettenhemden, der Lederkleidung und den hervorragend gearbeiteten Waffen wirkte die kaiserliche Garde beeindruckend, wirklich beängstigend jedoch waren ihre schiere Körpergröße und ihre hervortretenden, regennassen Muskeln.
Es waren Männer, die es schafften, sogar unter den brutalen regulären Truppen der Imperialen Ordnung Angst und Schrecken zu verbreiten. Die regulären Soldaten machten ihnen weiträumig Platz. Richard konnte sich nicht vorstellen, dass sie auch nur die geringste Kleinigkeit duldeten, die in ihren Augen eine mögliche Gefahr für den Kaiser darstellte. Johnrock stellte sich zu den übrigen Männern, die für die kaiserliche Inspektion in einer Linie angetreten waren.
Dann erblickte er inmitten seiner muskelbepackten Leibgarde den kahlrasierten Schädel Jagangs, und die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag.
Jagang würde ihn wiedererkennen.
Er hatte sich als Traumwandler im Verstand mehrerer Personen befunden und Richard mit deren Augen gesehen.
Welch unfassbare Nachlässigkeit, nicht daran gedacht zu haben, dass Jagang, wenn er gegen dessen Mannschaft spielte, um in Kahlans Nähe zu gelangen, ebenfalls zugegen sein und ihn wiedererkennen würde. In seiner Aufregung über die Vorstellung, sie endlich wiederzusehen, hatte er diese Möglichkeit nicht einmal in Betracht gezogen.
Dann bemerkte er noch jemanden - eine Schwester.
Dem Aussehen nach konnte es Schwester Ulicia sein, aber wenn es sich so verhielt, dann war sie seit ihrer letzten Begegnung schwer gealtert. Sie war etwas weiter entfernt, am hinteren Ende der Gruppe von Gardisten, die Jagang folgten, trotzdem konnte er ihre abgespannten Gesichtszüge erkennen. Bei ihrer letzten Begegnung war sie noch eine attraktive Frau gewesen, wenngleich er das Äußere einer Person nur schwer von ihrer Persönlichkeit zu trennen vermochte, und Schwester Ulicia war eine üble Person. Ein korrupter Charakter beeinflusste seine Bewertung eines Menschen so sehr, dass er dessen äußerliche Attraktivität nicht mehr von seinem üblen Wesen zu trennen vermochte.
Nicht zuletzt aus diesem Grund erschien Kahlan ihm so wunderschön – nicht nur wegen ihrer betörenden Attraktivität, sondern weil sie in jeder Hinsicht vorbildhaft war. Klugheit und Einsicht waren bei ihr ebenso ausgeprägt wie ihre leidenschaftliche Lebenslust. Ihr einnehmendes Äußeres schien das perfekte Spiegelbild all ihrer anderen Charakterzüge. Schwester Ulicia hingegen schien ihrer einstigen körperlichen Attraktivität zum Trotz nur noch ein Abbild ihres verdorbenen Innenlebens zu sein.
In diesem Moment dämmerte Richard, dass nicht nur sie und Jagang ihn wiedererkennen würden, sondern dass sich auch noch andere Schwestern im Feldlager befinden mussten, die ihn kannten.
Schlagartig fühlte er sich überaus verwundbar. Jederzeit konnte ihm eine von ihnen zufällig über den Weg laufen, ohne dass er eine Möglichkeit hätte, sich zu verstecken.
Eine Vision der Hexe Shota blitzte vor seinem inneren Auge auf, und ihm wurde speiübel. Es war die Vision einer Hinrichtung, und es hatte, genau wie jetzt, geregnet. Kahlan war ebenfalls dabei gewesen. Unter Tränen hatte sie voller Entsetzen mit ansehen müssen, wie man ihn zwang, mit auf den Rücken gebundenen Händen im Morast niederzuknien. Dann war von hinten ein hünenhafter Rohling gekommen, hatte mit den Worten, er werde Kahlan für sich selbst beanspruchen, ein langes Messer gezückt und ihm mit einem mächtigen Ruck die Kehle durchgeschnitten. Richard ertappte sich dabei, wie er sich an den Hals fasste, so als wollte er seine Hand schützend über die klaffende Wunde dort legen. Er schnaufte vor Panik.
Eine heiße Woge von Übelkeit stieg in ihm hoch. Würde Shotas Vision in diesem Moment in Erfüllung gehen? War es das, wovor sie ihn gewarnt hatte? War dies der Tag, an dem er sterben würde?
Es ging alles viel zu schnell. Er war nicht vorbereitet. Wie hätte er das auch anstellen sollen?
»Rüben! Hierher!«, brüllte Kommandant Karg.
Richard hatte Mühe, seine Empfindungen in den Griff zu bekommen. Er atmete einmal tief durch und versuchte sich zu beruhigen, während er sich in Bewegung setzte. Weigerte er sich, würde die Situation nur noch schneller unangenehm werden.
Nicht weit entfernt war eine Personengruppe vor der nächsten Mannschaft in der Reihe stehen geblieben. Wegen des rauschenden Regens konnte Richard nur das Gemurmel ihrer Stimmen hören. Sein Verstand raste, während er fieberhaft überlegte, wie er verhindern konnte, dass Jagang ihn wiedererkannte. Sich hinter den anderen zu verstecken? Kam nicht in Frage. Er war die Angriffsspitze, der Spieler, den Jagang würde kennenlernen wollen.
Und dann erhaschte er einen Blick auf Kahlan.
Er bewegte sich wie im Traum. Die ganze Gruppe rings um sie und den Kaiser machte Anstalten, sich ihm und seiner Mannschaft zuzuwenden. Er wusste, er musste nach oben zu den anderen Männern, und so schickte er sich an, über die an Johnrocks Halsring befestigte Kette hinwegzusteigen. In diesem Moment hatte er eine Eingebung. Er lief ein, zwei schnelle Schritte, verhakte sich absichtlich mit dem Fuß in der Kette und landete mit dem Gesicht voran im Morast.
Kommandant Karg schoss die Zornesröte ins Gesicht. »Rüben - du ungeschickter Tölpel! Auf die Beine mit dir!«
Richard rappelte sich im selben Moment auf, als Jagangs Leibgarde sich für den Kaiser zu teilen begann. Aufrecht stellte er sich neben Johnrock und wischte sich den Schlamm aus den Augen.
Er blinzelte, um etwas erkennen zu können, und in diesem Moment fiel sein Blick auf Kahlan. Sie ging unmittelbar hinter Jagang, das Gesicht teilweise verdeckt von der Kapuze ihres Umhangs, die sie als Schutz gegen den Regen hochgeschlagen hatte. Jede Bewegung ihres Körpers war ihm vertraut. Niemand sonst bewegte sich wie sie.
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