Wenigstens würde sie auf diese Weise einmal von Yanis wegkommen, dachte Zanna verdrossen. Er trieb sie zur Verzweiflung, indem er sich den ganzen Tag in Vannors Kammer herumdrückte und Emmie mit großen Schafsaugen anstierte – wobei die Fremde, um ehrlich zu sein, seine Aufmerksamkeit überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Zanna fühlte sich auf seltsame Weise zu dem ernsthaften Mädchen mit den traurigen Augen hingezogen, die nach Remanas Bericht älter war, als sie aussah, und sowohl ihren Mann als auch ihre beiden Kinder infolge Miathans Grausamkeiten verloren hatte. Danach empfand Zanna großes Mitleid für sie, und außerdem wußte sie von ganzem Herzen zu schätzen, was Emmie für ihren Vater tat – und doch sollte sie die ältere Frau eigentlich wegen ihrer Schönheit hassen und dafür, daß sie Yanis von ihr selbst ablenkte.
Andererseits hatte Zanna während der Zeit, die sie zusammen in Hebbas Haus eingepfercht waren, festgestellt, daß sie das gedankenlose, selbstsüchtige Benehmen des Anführers der Nachtfahrer in zunehmendem Maße erzürnte. Außerdem war er nicht besonders klug – das hatte sie schon vorher gewußt, aber damals hatte es sie nicht gestört. Zanna errötete jedesmal, wenn sie sich daran erinnerte, daß sie ihrem Vater vor einigen Monaten erzählt hatte, daß sie die Absicht hätte, Yanis zu heiraten. Was für eine Närrin sie doch gewesen war!
Bei all der Verwirrung war Tarnal der einzig feste Anker in ihrem Leben. Er schien immer da zu sein, wenn Zanna am dringendsten einen Freund brauchte, und sie war stets froh, ihn zu sehen. Auch bedeutete es ihr sehr viel, daß der junge Schmuggler ihrem Vater gegenüber, für den er großen Respekt hatte, stets so besorgt war. Wenn sie der Spannung müde war, die zwischen Emmie und dem Anführer der Nachtfahrer herrschte, freute sie sich jedesmal auf den Ausflug, den sie mit Tarnal unternehmen wollte. Es würde sicher eine Wohltat sein, eine Weile nichts von Yanis’ Dummheiten miterleben zu müssen. Und so wartete sie ungeduldig darauf, daß das Wetter besser wurde. Am Tag, nachdem der Sturm sich endlich gelegt hatte, nahm sie daher Tarnals Einladung zu einem Ausritt auf den Klippen dankbar an.
Warm eingepackt, damit der Wind ihr nichts anhaben konnte, der auf ihren glühenden Wangen brannte und ihr das kurzgeschorene Haar zerzauste, galoppierte Zanna mit ihrem Pony über die Klippen; sie und Tarnal ritten um die Wette, und ihr Ziel sollte der einsame, stehende Stein in der Ferne sein. Wie herrlich es war, wieder draußen an der frischen Luft zu sein! Piper schien es genauso zu ergehen – das Pony war nach seiner langen Gefangenschaft in der Höhle voller Energie und brauchte diesen Ritt, um seiner Unruhe Herr zu werden. Die Wirkung auf Zanna schien die gleiche zu sein, denn als sie am Fuß des Hügels, auf dem der großen Stein stand, angelangt war – so nah wie man sich auf einem Pferd an den Stein heranwagen durfte, da die Tiere sich vor dem finsteren Megalithen fürchteten –, fühlte sie sich so glücklich und frei wie schon lange nicht mehr.
Lachend drehte sie sich zu Tarnal um, der hinter ihr herangaloppierte. »Ich habe gewonnen!« jubilierte sie. »Dieses fette Vieh, das du da reitest, muß schon seine Hufe schwingen, wenn es meinen Piper schlagen will …« Zanna brach plötzlich ab, als etwas – eine lange, dunkle, unvertraute Gestalt draußen auf dem Meer – ihre Aufmerksamkeit erregte. Es war auf keinen Fall ein Schiff, obwohl es groß genug dafür wäre, und nach der Art, wie es sich bewegte, schien es lebendig zu sein. »Tarnal, was, um alles auf der Welt, ist das denn?« rief sie und zeigte mit dem Finger aufs Meer.
»Es sieht aus wie ein Wal.« Der Nachtfahrer runzelte verwirrt die Stirn. »Aber normalerweise ziehen die Wale niemals in diese Gewässer. Was tut er hier? Und warum ist er ganz allein? Außerdem, warum bleibt er die ganze Zeit an der Oberfläche? Meinst du vielleicht, er ist krank?«
Gemeinsam setzten sie sich auf die Klippen, nachdem sie von ihren Ponys abgestiegen waren, die jetzt ganz in der Nähe grasten.
Während sich das riesige Tier draußen auf dem Meer langsam der Küste näherte, bemerkte Zanna irgendwann, daß Tarnal nach ihrer Hand gegriffen hatte, aber es war ein so angenehmes Gefühl, daß sie keinen Versuch unternahm, ihre Hand wegzuziehen. Plötzlich spürte sie, daß seine Finger sich fester um die ihren schlossen. »Zanna …« Seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. »Bitte sag mir, daß ich keine Gespenster sehe. Ich bin sicher, daß da Leute auf dem Wal reiten.«
Seine Augen waren schärfer als ihre, aber nach ein paar Sekunden konnte Zanna die Gestalten auf dem Wal ebenfalls erkennen. »Das sind Leute! Aber wer könnte solche Macht über ein Geschöpf der Tiefe haben?« Sie drehte sich mit plötzlicher Panik zu dem Nachtfahrer um. »Tarnal – glaubst du, es ist der Erzmagusch? Was ist, wenn er uns gefunden hat?«
Fluchend riß Tarnal sie vom Boden hoch. »Schnell! Wir müssen zurück in die Höhle. Wir müssen unsere Leute warnen.«
Zanna warf sich auf Pipers Rücken und riß an den Zügeln. Das Tier bäumte sich überrascht auf, und dann stürmten sie zurück zum Versteck der Nachtfahrer.
Es war Sangra, die als erste die unverkennbare Gestalt des Megalithen entdeckte, der für die wenigen Glücklichen, die davon wußten, den Standort des geheimen Verstecks der Schmuggler kennzeichnete. »Da ist er!« rief sie. Parric erwachte benommen und rollte sich zur Seite, wobei er nur in letzter Sekunde verhindern konnte, daß er von dem geschwungenen Rücken des Leviathan hinunterrutschte. Sangra streckte die Hand aus, um ihm Halt zu geben, und er brachte sich leise fluchend in Sicherheit, bevor er sich aufsetzte und in die Richtung schaute, in die Sangra deutete.
»Du hast recht!« rief er. »Wer hätte gedacht, daß dieses Tier so schnell schwimmen kann? Das müssen wir unbedingt diesem elenden Mistkerl Idris erzählen, der uns mit dem löchrigen, alten Waschzuber, den er ein Schiff nennt, nach Süden gebracht hat!« Dann drehte er sich um und versuchte mit einem kräftigen Schütteln das Windauge zu wecken – was eine ganze Weile dauerte, da Chiamh den größten Teil der Nacht in angeregtem Gespräch mit Ithalasa verbracht hatte.
»Chiamh? Chiamh, wach auf, du Witzbold. Wir sind da!«
»Was? Schon?« murmelte Chiamh mit einem enttäuschten Unterton in der Stimme. Parric ignorierte ihn. Das Windauge war zwar ein netter Bursche und absolut harmlos, aber es war für ihn immer ein Fremder geblieben. Der Kavalleriehauptmann konnte es jedenfalls gar nicht erwarten, daß diese elende, abscheuliche, nasse, unbequeme, langweilige Reise endlich ein Ende nahm. Plötzlich erinnerte er sich daran, wo er sich befand, und versuchte hastig, diese Gedanken zu unterdrücken, falls der Leviathan irgendwie in der Lage sein sollte, ihn zu hören. Parric verspürte nach wie vor größte Ehrfurcht vor dem gewaltigen Geschöpf.
»Könntest du unseren Freund wohl bitten, auf diesen stehenden Stein auf den Klippen zuzuhalten?« fragte er das Windauge hastig und mit ungewohnter Höflichkeit.
»Welche Klippen?« fragte Chiamh, der kurzsichtig zum Horizont blinzelte. Parric seufzte. Das war ein Problem, mit dem er nicht gerechnet hatte.
»Weißt du«, sagte Sangra sanft, denn sie mochte das Windauge sehr, »du solltest die Lady Aurian fragen, ob sie dir mit ihren heilenden Kräften nicht helfen könnte, wieder richtig zu sehen.«
»Wir haben darüber gesprochen«, erwiderte Chiamh, »und sie hat es mir angeboten – aber ich fürchte, daß ich möglicherweise meine Andersicht verliere, wenn sie mir mein normales Augenlicht zurückgibt. Und ich wage es nicht, dieses Risiko einzugehen.«
»Darüber könnt ihr euch ein andermal unterhalten«, unterbrach Parric die beiden ungeduldig. Er sah bereits, daß der Leviathan langsam vom Kurs geriet. »Wie kriegen wir ihn jetzt dazu, uns wirklich zu den Nachtfahrern zu bringen?«
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