»Er ist das Oberhaupt des Pandemonium Clubs«, warf Mortmain ein. Er wirkte erschöpft und grau im Gesicht. »Alle anderen haben sich ihm gegenüber zu verantworten.«
»Das Oberhaupt des Clubs. Trägt er auch einen Titel?«
Bei dieser Frage schaute Mortmain leicht überrascht. »Der ›Magister‹«, erklärte er schließlich. Rasch ließ Charlotte das Metallgerät in ihren Ärmel gleiten, wobei ihre Hand kaum merklich zitterte.
»Vielen Dank, Mr Mortmain. Sie waren uns sehr behilflich.«
Mortmain warf ihr einen kurzen Blick zu, eine Mischung aus Erschöpfung und Groll. »De Quincey wird herausfinden, dass ich Ihnen seinen Namen verraten habe. Und er wird mich dafür töten lassen.«
»Der Rat wird dafür sorgen, dass dies nicht geschieht. Außerdem werden wir Ihren Namen aus der Sache heraushalten. Er wird nie erfahren, dass Sie mit uns geredet haben.«
»Das würden Sie tun?«, fragte Mortmain leise. »Für einen ... wie sagten Sie noch mal? ... für einen törichten Irdischen?«
»Ich hege noch Hoffnung für Sie, Mr Mortmain. Sie scheinen sich Ihrer eigenen Torheit bewusst geworden zu sein. Der Rat wird Sie im Auge behalten — nicht nur zu Ihrer eigenen Sicherheit, sondern auch, um sich zu vergewissern, dass Sie sich vom Pandemonium Club und ähnlichen Organisationen in Zukunft fernhalten. In Ihrem eigenen Interesse hoffe ich, dass Sie unser heutiges Treffen als eine Warnung betrachten.«
Mortmain nickte. Charlotte marschierte zur Tür, Henry im Kielsog. Die beiden standen bereits auf der Schwelle, als Mortmain sich räusperte. »Es waren doch nur Zahnräder«, sagte er zerknirscht. »Nur Zahnräder und Getriebe. Vollkommen harmlos.«
Zu Charlottes Überraschung reagierte Henry als Erster. »Unbelebte Gegenstände sind in der Tat harmlos, Mr Mortmain«, erwiderte er, ohne sich umzudrehen. »Aber das gilt leider nicht immer für diejenigen, die sie benutzen.«
Mortmain schwieg betreten, während die beiden Schattenjäger den Raum verließen. Wenige Momente später standen Charlotte und Henry wieder auf dem Platz vor dem Haus und ließen sich die frische Brise um die Nase wehen. Londons Luft mochte zwar von Staub und Kohlenqualm erfüllt sein, dachte Charlotte, aber wenigstens war sie frei von jener Mischung aus Angst und Verzweiflung, die wie ein dichter Dunst in Mortmains Arbeitszimmer gehangen hatte.
Vorsichtig zog Charlotte das rechteckige Metallobjekt aus ihrem Ärmel und reichte es ihrem Mann, der es mit ernster Miene entgegennahm. »Ich sollte dich wohl fragen, worum es sich bei diesem Gerät tatsächlich handelt, Henry.«
»Das ist etwas, an dem ich schon eine ganze Weile tüftle.« Henry betrachtete den Gegenstand liebevoll.
»Ein Apparat zum Aufspüren von Dämonenenergie. Ich werde ihn ›Sensor‹ nennen. Noch arbeitet er nicht hundertprozentig, aber wenn es mir erst einmal gelingt ...«
»Ich bin mir sicher, dass dies eine hervorragende Erfindung sein wird«, erklärte Charlotte zuversichtlich.
Henry bedachte sie mit einem mindestens so liebevollen Blick wie das Gerät, was nicht häufig vorkam.
»Welch ein genialer Geistesblitz, Charlotte. Vorzugeben, du könntest die Schattenjägergemeinschaft im Nu herbeizitieren, nur um diesem Mann Angst einzujagen! Aber woher wusstest du, dass ich ein Gerät bei mir tragen würde, das du für deine Zwecke verwenden konntest?«
»Nun ja, du trägst doch immer irgendeine Tüftelei mit dir herum, mein Lieber«, erklärte Charlotte. Henry zog eine verlegene Miene. »Du bist genauso Furcht einflößend wie wundervoll, meine Liebe.«
»Danke, Henry.«
Die Fahrt zurück zum Institut verlief in tiefem Schweigen. Jessamine starrte blind aus dem Kutschfenster und weigerte sich, auch nur ein Wort über das Erlebnis im Hydepark zu verlieren. Ihr Sonnenschirm lag quer über ihrem Schoß, doch es schien sie nicht zu stören, dass das Blut an seinen Rändern dunkle Flecken auf ihrer Taftjacke hinterließ. Nachdem die Kutsche in den Innenhof des Instituts gerollt war, ließ sie sich von Thomas beim Aussteigen helfen und griff dann nach Tessas Hand.
Überrascht schaute Tessa auf. Jessamines Finger waren eiskalt.
»Nun komm schon«, fauchte Jessamine ungeduldig und zerrte ihre Begleiterin zur Institutstür, während Thomas ihnen erstaunt hinterherstarrte.
Tessa ließ sich die Stufen hinaufzerren, durch die Eingangstür und in einen langen Korridor, der dem vor ihrem eigenen Zimmer fast zum Verwechseln ähnelte. Schließlich blieb Jessamine vor einer Tür stehen, öffnete sie, schob Tessa ins Zimmer und schloss sie dann hinter ihnen. »Ich will dir etwas zeigen«, sagte sie.
Tessa schaute sich um. Sie befand sich in einem weiteren dieser großen Schlafzimmer, von denen das Institut offenbar unbegrenzt viele zu besitzen schien. Allerdings hatte Jessamine diesen Raum eher nach ihrem Geschmack einrichten lassen: Die Wände oberhalb der halbhohen Holzvertäfelung waren mit einer rosa Seidentapete versehen, auf dem Bett lag eine geblümte Tagesdecke und in einer Ecke stand eine weiße Frisierkommode, über dessen Ablagefläche exquisite Toilettenutensilien verstreut waren: ein Ringständer, ein Parfümzerstäuber sowie ein silberbeschlagener Frisierspiegel samt Haarbürste.
»Du hast ein hübsches Zimmer«, sagte Tessa, in der Hoffnung, damit Jessamines hysterischen Anfall etwas lindern zu können.
»Es ist viel zu klein«, entgegnete Jessamine. »Aber lassen wir das. Komm lieber hier herüber.« Achtlos warf sie den blutverschmierten Schirm auf das Bett und marschierte quer durch den Raum zum Fenster. Verwundert folgte Tessa ihr. In der Ecke neben dem Fenster stand ein hoher Tisch, auf dem ein Puppenhaus aufgebaut war.
Allerdings nicht die Sorte von schlichtem Pappkartonhaus, das Tessa als kleines Mädchen besessen hatte, sondern ein wunderschönes Miniaturmodell eines Londoner Stadthauses, dessen Front nach außen aufschwang, als Jessamine mit dem Finger dagegendrückte.
Tessa hielt den Atem an. Hinter der Giebelwand kamen wundervolle, winzige Räume zum Vorschein, die mit Miniaturmöbeln perfekt eingerichtet waren — jedes kleinste Detail war maßstabsgetreu gefertigt, von den winzigen Holzstühlen mit Stickkissen bis hin zum gusseisernen Herd in der Puppenküche. Außerdem entdeckte Tessa mehrere kleine Püppchen mit feinen Porzellanköpfen und sogar richtige Ölgemälde an den Wänden des Wohnzimmers.
»Dies war mein Haus«, sagte Jessamine tonlos, kniete sich vor den Tisch, sodass sie mit den Räumen des Puppenhauses auf Augenhöhe war, und winkte Tessa zu sich heran.
Unbehaglich ließ Tessa sich neben ihr nieder, wobei sie sich bemühte, nicht auf Jessamines Rocksaum zu knien. »Du meinst wohl, dies war dein Puppenhaus ... das, mit dem du als kleines Mädchen gespielt hast?«
»Nein.« Jessamine klang ungehalten. »Dies war mein Haus. Mein Vater hat es für mich anfertigen lassen, als ich sechs Jahre alt war. Es ist ein exaktes Modell des Hauses, in dem wir damals gewohnt haben ... in der Curzon Street. Hier siehst du die Tapete, die in unserem Speisezimmer hing ...« Sie zeigte auf eine der Wände. »Und das hier sind genaue Nachbildungen der Stühle im Arbeitszimmer meines Vaters. Siehst du?«
Jessamine schaute Tessa derart eindringlich an, dass ihr klar wurde, die junge Schattenjägerin erwartete eine besondere Reaktion von ihr. Doch Tessa sah in dem Puppenhaus nichts anderes als nur ein extrem teures Spielzeug aus einer Zeit, der das Mädchen eigentlich längst hätte entwachsen sein müssen — sie konnte einfach nicht erkennen, was Jessamine meinte.
»Wirklich sehr hübsch«, sagte sie schließlich.
»Siehst du, hier im Salon, das ist Mama«, fuhr Jessamine fort und berührte eine der winzigen Puppen vorsichtig mit dem Finger, woraufhin diese in ihrem Plüschsessel leicht wackelte. »Und hier im Arbeitszimmer sitzt Papa, mit einem Buch.« Ihr Finger streifte behutsam über eine andere Porzellanfigur. »Und ganz oben, im Kinderzimmer, liegt Klein Jessie in ihrem Bettchen.« Im Inneren der winzigen Wiege befand sich tatsächlich ein weiteres Püppchen, dessen Kopf kaum sichtbar unter dem Miniaturdeckchen hervorlugte. »Später werden alle gemeinsam zu Abend essen, hier im Speisezimmer. Und danach werden Mama und Papa im Salon am offenen Kamin sitzen. Manchmal gehen sie aber auch ins Theater oder in ein elegantes Restaurant oder auf einen Ball.« Jessamines Stimme klang nun gedämpft, als zitiere sie eine oft wiederholte Litanei. »Und dann wird Mama Papa einen Gutenachtkuss geben und sie werden auf ihre Zimmer gehen und die ganze Nacht schlafen ... bis zum Morgen. Sie werden nicht mitten in der Nacht vom Rat aus dem Schlaf gerissen, der von ihnen verlangt, hinaus in die Dunkelheit zu gehen und gegen Dämonen zu kämpfen. Sie werden kein Blut durchs ganze Haus verteilen. Und niemand wird beim Kampf gegen einen Werwolf einen Arm oder ein Auge verlieren oder Unmengen von Weihwasser in sich hineinschütten müssen, weil er von einem Vampir angegriffen wurde.«
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