»Reizende Kreaturen, diese Feenwesen, aber ich fürchte ernsthaft, dass der Fortschritt eines Tages ihr Untergang sein wird.«
Charlotte interessierte sich nicht für Mortmains Ansichten über das Lichte Volk und überlegte stattdessen fieberhaft. »Lassen Sie mich raten. Sie haben Nathaniel Gray in den Club eingeführt, genau wie Sie seinen Vater damals mitgenommen haben.«
Mortmain, der gerade wieder zu seinem alten Selbstvertrauen zurückgefunden hatte, ließ erneut die Schultern hängen. »Nathaniel war kaum ein paar Tage in meinem Londoner Büro tätig, als er mich auch schon damit konfrontierte. Offenbar hatte er durch seinen Vater von dem Club gehört und verlangte nun, mehr darüber zu erfahren. Ich konnte ihm seinen brennenden Wunsch nicht abschlagen und nahm ihn zu einer der Zusammenkünfte mit, in der Annahme, dass die Angelegenheit damit erledigt sei. Doch das war nicht der Fall.« Erneut schüttelte Mortmain den Kopf. »Nathaniel fühlte sich im Club so wohl wie ein Fisch im Wasser. Wenige Wochen nach jenem ersten Treffen zog er aus seiner Pension aus und sandte mir ein Schreiben, in dem er seine Stelle kündigte und mir mitteilte, dass er in Zukunft für ein anderes Clubmitglied arbeiten werde. Für jemanden, der offenbar bereit war, ihm einen solch hohen Lohn zu zahlen, dass er seiner Spielleidenschaft nachgehen konnte«, fügte Mortmain seufzend hinzu. »Ich brauche wohl nicht extra zu betonen, dass er keine Nachsendeadresse hinterließ.«
»Und damit hatte sich die Angelegenheit für Sie erledigt?«, fragte Charlotte fassungslos. »Sie haben nicht einmal versucht, ihn aufzuspüren? Herauszufinden, wohin er gegangen war? Wer sein neuer Arbeitgeber war?«
»Jedermann hat das Recht, seine Stelle zu wechseln, wie es ihm beliebt!«, brauste Mortmain auf. »Es bestand nicht der geringste Grund zur Annahme, dass ...«
»Und seitdem haben Sie ihn nicht mehr gesehen?«, fiel Charlotte ihm eisig ins Wort.
»Nein. Ich sagte ja bereits ...«
»Sie sagten, er habe sich im Pandemonium Club wie ein Fisch im Wasser gefühlt«, unterbrach sie ihn erneut, »und dennoch haben Sie ihn seit seiner Kündigung nicht ein einziges Mal mehr dort getroffen?«
Ein Ausdruck von Panik flackerte in Mortmains Augen auf. »Ich ... ich bin seitdem selbst nicht mehr im Club gewesen. Die Geschäfte ließen mir keine Zeit dazu.«
Charlotte warf Axel Mortmain über seinen wuchtigen Schreibtisch einen skeptischen Blick zu. Sie hatte sich immer für eine gute Menschenkennerin gehalten und Männer wie Mortmain waren ihr schon viele begegnet. Raubeinige, brillante, selbstsichere Männer, die glaubten, ihr Erfolg in geschäftlichen Dingen oder anderen weltlichen Aktivitäten wäre der Garant für vergleichbare Erfolge in der Kunst der Magie. Erneut musste Charlotte an den Advokaten denken, an die Wände seines herrschaftlichen Hauses in Knightsbridge, beschmiert mit dem Blut seiner Familie. Ihre Gedanken wanderten zu den letzten Sekunden seines Lebens, zur abgrundtiefen Angst, die er in diesem Moment empfunden haben musste, und sie konnte eine ähnliche Furcht in Axel Mortmains Augen aufsteigen sehen.
»Mr Mortmain, Sie können mich nicht zum Narren halten. Ich weiß, dass Sie mir irgendetwas verheimlichen«, sagte sie. Dann nahm sie eines der Zahnräder, die Will aus dem Dunklen Haus mitgebracht hatte, aus ihrem Ridikül und legte es auf den Schreibtisch. »Dies hier sieht ganz so aus, als stammte es aus einer Ihrer Fabriken.«
Geistesabwesend warf Mortmain einen kurzen Blick auf das kleine Metallobjekt auf seinem Schreibtisch. »Ja ... ja, das ist eines meiner Zahnräder. Was soll damit sein?«
»Zwei Hexen, die sich als die ›Dunklen Schwestern‹ bezeichnen — übrigens beide Mitglieder im Pandemonium Club —, haben mehrere Menschen umgebracht. Junge Mädchen. Kaum den Kinderschuhen entwachsen. Und bei unseren Ermittlungen haben wir dies im Keller der Schwestern gefunden.«
»Mit Mord habe ich nichts zu tun!«, rief Mortmain.
»Ich habe nie ... Ich dachte ...«, stammelte er, während ihm der Schweiß auf die Stirn trat.
»Was haben Sie gedacht?«, fragte Charlotte mit sanfter Stimme.
Mortmain nahm das Zahnrad und hielt es in der zitternden Hand. »Sie können sich nicht vorstellen ...«, setzte er an und brach dann ab. Schließlich fasste er sich. »Vor ein paar Monaten ist ein Vorstandsmitglied — ein Schattenweltler, eine sehr alte und mächtige Persönlichkeit — an mich herangetreten und hat mich gebeten, ihm Maschinenteile zu einem günstigen Preis zu verkaufen. Zahnräder, Getriebe und dergleichen. Ich habe ihn nicht gefragt, wozu er diese benötigte — warum sollte ich auch? An seiner Anfrage erschien mir nichts ungewöhnlich.«
»War dies zufälligerweise derselbe Mann, in dessen Dienste Nathaniel sich nach dem Ausscheiden aus Ihrem Unternehmen begeben hat?«, hakte Charlotte nach.
Mortmain ließ das Zahnrad fallen. Es rollte über seinen Schreibtisch, kam allerdings nicht sehr weit, da er mit der flachen Hand daraufschlug und es abbremste.
Obwohl er schwieg, konnte Charlotte an der aufflackernden Furcht in seinen Augen erkennen, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag. Ein Gefühl des Triumphes erfasste sie. »Sein Name«, forderte sie. »Nennen Sie mir seinen Namen.«
Mortmain starrte auf seinen Schreibtisch. »Wenn ich Ihnen seinen Namen gebe, setze ich damit mein Leben aufs Spiel.«
»Und was ist mit Nathaniel Grays Leben?«, fragte Charlotte.
Mortmain wich ihrem Blick aus und schüttelte den Kopf. »Sie haben keine Ahnung, wie mächtig dieser Mann ist. Wie gefährlich.«
Entschlossen richtete Charlotte sich auf. »Henry«, befahl sie. »Henry, bring mir den Zitierer.«
Henry wandte sich von der Wand ab und blinzelte verwirrt. »Aber, meine Liebe ...«
»Bring mir das Gerät!«, fauchte Charlotte. Sie hasste es, Henry anzufahren — es erschien ihr, als würde sie nach einem Welpen treten. Aber manchmal musste es einfach sein.
Mit einem verwunderten Ausdruck auf dem Gesicht gesellte Henry sich zu seiner Frau und zog ein Gerät aus der Tasche — ein dunkles, rechteckiges Metallobjekt mit einer Reihe seltsamer Skalen und Wählscheiben auf der Oberfläche.
Charlotte griff nach dem Gerät und fuchtelte damit vor Mortmains Nase herum. »Das hier ist ein Zitierer«, erklärte sie ihm. »Ich brauche ihn nur zu betätigen, um die Schattenjägergemeinschaft im Nu herbeizuzitieren. Binnen drei Minuten wird Ihr Haus umstellt sein. Nephilim werden Sie an Händen und Füßen aus diesem Raum schleifen und Sie den unerträglichsten Folterungen unterziehen, bis sie gezwungen sind zu sprechen. Möchten Sie wissen, was passiert, wenn man einem Mann Dämonenblut in die Augen träufelt?«
Mortmain warf ihr einen entsetzten Blick zu, schwieg aber weiterhin.
»Bitte stellen Sie mich nicht auf die Probe, Mr Mortmain.« Das Gerät in Charlottes Hand war schweißfeucht, aber ihre Stimme klang vollkommen beherrscht. »Es würde mir gar nicht gefallen, mit ansehen zu müssen, wie Sie eines qualvollen Todes sterben.«
»Gütiger Gott, so reden Sie doch, Mann!«, platzte Henry hervor. »So weit muss es doch gar nicht kommen. Sie machen es sich selbst nur unnötig schwer.«
Mortmain stützte das Gesicht in die Hände. Er wollte schon immer einmal echte Schattenjäger kennenlernen, dachte Charlotte beim Anblick der zusammengekrümmten Gestalt. Und nun ist sein Wunsch in Erfüllung gegangen.
»De Quincey«, murmelte Mortmain. »Seinen Vornamen kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass er de Quincey heißt.«
Beim Erzengel. Charlotte ließ langsam die Luft aus ihren Lungen entweichen, während sie den Arm herunternahm. »De Quincey? Das kann nicht sein ...«
»Dann kennen Sie ihn?« Mortmains Stimme klang matt. »Nun ja, davon war auszugehen.«
»De Quincey ist der Anführer eines mächtigen Londoner Vampirclans«, sagte Charlotte beinahe widerstrebend, »ein sehr einflussreicher Schattenweltler und ein Verbündeter des Rats. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ...«
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