»Weg, schnell weg!« rief er mit schreckgeweiteten Augen. »Der Teufel Sie bestimmt noch kriegen, wenn Sie oben bleiben!«
»Die Stimme der Vernunft!« sagte Summerlee im Brustton der Überzeugung. »Wir haben genug Abenteuer erlebt, mehr als für uns gut ist. Ich nehme Sie jetzt beim Wort, Challenger. Von jetzt an werden Sie Ihre ganze Energie darauf verwenden, uns aus diesem scheußlichen Land heraus und wieder zurück in die Zivilisation zu bringen!«
15
Unsere Augen haben große Wunder gesehen
Ich hoffe zuversichtlich, noch vor dem Schluß dieses Briefes berichten zu können, daß endlich Licht durch die Wolken bricht, die uns seit langem beschatten. Wir sitzen zwar immer noch ohne einen erkennbaren Ausweg fest und wehren uns erbittert. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, daß wir eines Tages froh sein werden, hier gegen unseren Willen länger aufgehalten worden zu sein. Wir haben auf diese Weise noch mehr von den Wundern dieses einmaligen Ortes und den Geschöpfen, die ihn bewohnen, gesehen.
Der Sieg der Indianer und die Ausrottung der Affenmenschen brachten einen Wendepunkt für unser Geschick. Von da ab waren wir die eigentlichen Herren des Plateaus. Die Indianer begegneten uns mit einer Mischung aus Scheu und Dankbarkeit, da wir ihnen mit unseren unerklärlichen Kräften geholfen hatten, ihren Erbfeind vernichtend zu schlagen. In ihrem eigenen Interesse wären sie vielleicht froh gewesen, uns fürchterliche, unberechenbare Leute wieder loszuwerden, aber sie haben von sich aus keine Möglichkeit angedeutet, wie wir wieder nach unten in die Ebene gelangen könnten. Soweit wir ihrer Zeichensprache zu folgen vermochten, hatte es früher einen Tunnel gegeben, dessen unteren Zugang wir ja von außen gesehen hatten. Durch ihn hatten zweifellos sowohl die Affenmenschen als auch die Indianer zu verschiedenen Epochen das Plateau erklommen. Auch Maple White hatte mit seinem Begleiter diesen Weg benutzt. Im letzten Jahr hatte es jedoch ein furchtbares Erdbeben gegeben, und das obere Ende des Tunnels war eingestürzt.
Die Indianer schüttelten nur den Kopf und zuckten die Achseln, wenn wir ihnen mit Zeichen zu verstehen gaben, daß wir gerne hinunter wollten. Es ist möglich, daß sie uns nicht helfen können, aber es kann ebensogut sein, daß sie es nicht wollen.
Nach dem erfolgreichen Sieg über die Affenmenschen waren die überlebenden Weibchen und Jungen über das Plateau getrieben und unter der Felswand mit den Höhlen eingepfercht worden. Ihr Jammern und Schreien werden mir noch lange in den Ohren klingen, und auch den Anblick, der mich seltsamerweise an die Vertreibung der Juden aus Ägypten erinnerte, werde ich lange nicht vergessen können. Nachts hören wir noch immer das langgedehnte Wimmern und Geheul der armseligen versklavten Kreaturen, die mittlerweile niedrige Dienste wie Wasserholen und Holzfällen verrichten müssen.
Zwei Tage nach der Schlacht waren wir gemeinsam mit unseren Verbündeten über das Plateau gezogen und hatten am Fuße ihrer Klippen unser Lager aufgeschlagen. Sie hatten uns angeboten, ihre Höhlen mit uns zu teilen, aber Lord John hatte davon absolut nichts wissen wollen, weil sie uns damit völlig in der Hand gehabt hätten. Wir bewahrten also unsere Unabhängigkeit und hielten ständig unsere Waffen für den Notfall bereit, pflegten aber andererseits freundschaftliche Beziehungen zu ihnen. Wir besuchten auch ihre Höhlen, äußerst merkwürdige Behausungen, von denen wir nicht wußten, ob sie durch Menschenhand oder Naturgewalten entstanden waren. Sie lagen sämtlich in einer Schicht von verhältnismäßig weichem Gestein, die zwischen vulkanischem Basalt und hartem Granit verlief.
Die Öffnungen waren etwa achtzig Fuß über dem Boden. Lange Steintreppen führten zu ihnen hinauf. Sie waren so schmal und steil, daß kein Tier sie ersteigen konnte. Innen waren die Höhlen warm und trocken. Gerade Gänge von unterschiedlicher Länge führten in den Fels hinein, ihre glatten grauen Wände waren mit Kohlezeichnungen bemalt, welche die verschiedenen Formen tierischen Lebens darstellten, von denen die Einwohner des Plateaus umgeben waren. Selbst wenn plötzlich alles Leben in Maple-White-Land erlosch, konnte ein künftiger Forscher hier immer noch im Überfluß Beweise für die einmalige Fauna finden, die in grauer Vorzeit einmal die ganze Erde bevölkert hatte.
Seit wir erfahren hatten, daß die riesigen Iguanodone als zahme Herdentiere von den Indianern gehalten wurden und einfach wandelnde Fleischvorräte darstellten, glaubten wir, daß der Mensch hier sogar mit seinen primitiven Waffen die Vorherrschaft erlangt hatte. Daß er in Wirklichkeit aber nur geduldet wurde, sollten wir bald feststellen müssen.
Am dritten Tag nach der Errichtung unseres Lagers bei den Höhlen waren Challenger und Summerlee gemeinsam zum See hinuntergegangen, wo einige Eingeborene nach ihren Anweisungen einzelne Exemplare großer Echsen harpunierten. Lord John und ich waren im Lager zurückgeblieben. Eine Anzahl von Indianern war auf dem grasbewachsenen Hang vor den Höhlen mit den verschiedensten Arbeiten beschäftigt. Plötzlich hörten wir einen schrillen Entsetzensschrei, und das Wort Stoa erscholl aus hundert Kehlen. Männer, Frauen und Kinder stürzten von allen Seiten in panikartiger Flucht herbei, jagten die Treppen hoch und verschwanden in den Höhlen.
Mit wilden Gesten versuchten sie, uns zu verstehen zu geben, daß wir ihnen folgen sollten, doch wir hatten bereits zu den Gewehren gegriffen und wollten erst einmal sehen, welche Gefahr hier drohte. Plötzlich brach aus dem nahen Baumgürtel eine Gruppe von zwölf bis fünfzehn Indianern hervor, die um ihr Leben rannten. Ihnen folgten unmittelbar auf den Fersen zwei jener grausigen Ungeheuer, die einmal unser Lager umschlichen und mich auf meiner Nachtwanderung verfolgt hatten. In der Gestalt glichen sie scheußlichen Kröten. Sie bewegten sich in langen Sprüngen vorwärts und übertrafen an Größe und Massigkeit jeden Elefanten. Bisher hatten wir sie nur während der Nacht gesehen - sie sind tatsächlich auch Nachttiere und lassen sich tagsüber nur dann blicken, wenn sie, so wie diese beiden, in ihren Schlupfwinkeln gestört wurden. Ihre fleckige, warzige Haut schillerte bei jeder ihrer Bewegungen, wir hatten jedoch nicht viel Zeit, sie zu betrachten, denn in Sekundenschnelle hatten sie die fliehenden Indianer eingeholt und begannen ein furchtbares Blutbad unter ihnen anzurichten.
Ihre Methode war einfach: sie ließen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf ihr Opfer fallen, zermalmten es unter sich und stürzten sich sofort auf das nächste. Die unglückseligen Indianer schrien vor Entsetzen. Wehrlos waren sie der blinden Zerstörungswut dieser Kreaturen ausgeliefert.
Kein halbes Dutzend war mehr am Leben, als Lord John und ich versuchten, ihnen zu Hilfe zu kommen. Unsere Bemühung hatte nur geringen Erfolg und brachte uns selber in größte Gefahr. Auf eine Entfernung von nur wenigen hundert Metern schossen wir unsere Magazine leer und jagten den Bestien Kugel auf Kugel in den Leib. Die Wirkung war nicht größer, als hätten wir sie mit Papierkügelchen beworfen. Ihre Reptiliennatur macht sich nichts aus Wunden, und ihre Lebenszentren, die nicht in einem Gehirn vereinigt, sondern über das ganze Rückenmark verteilt sind, konnten durch unsere modernen Waffen nicht zerstört werden. Das Äußerste, was wir erreichten, war, daß wir sie mit dem Krach und Mündungsfeuer unserer Gewehre ablenkten und so für die Indianer und uns Zeit gewannen, die Höhlen zu erreichen.
Wo jedoch die Explosivgeschosse des zwanzigsten Jahrhunderts wirkungslos geblieben waren, sollte den vergifteten Pfeilen der Indianer - in Strophantussaft getaucht und in verwestem Fleisch aufoewahrt - mehr Erfolg beschieden sein. Für den einzelnen Jäger allerdings, der eine solche Bestie angreift, sind solche Pfeile kaum von Nutzen, weil das Gift in dem schwerfälligen Kreislauf nur langsam wirkt und das Ungeheuer, bevor seine Kräfte erlahmen, seinen Angreifer immer noch überfallen und zermalmen kann. In unserem Fall aber hagelte ein Schauer von Pfeilen aus allen Felsspalten auf die Drachen herab, die uns bis zum Fuß der Treppen gefolgt waren. Innerhalb einer Minute waren sie damit regelrecht gespickt, kratzten und geiferten aber immer noch ohne jegliches Schmerzempfinden an den Stufen, krochen sogar einige Meter hinauf und rutschten dann wieder nach unten. Endlich wirkte das Gift. Der erste stöhnte auf und ließ den riesigen breiten Kopf zur Erde sinken. Der andere sprang mit schrillen, jaulenden Schreien im Kreis herum, stürzte dann ebenfalls nieder und zuckte noch einige Minuten lang im Todeskampf, bevor auch er starr und still liegen blieb.
Читать дальше