Auf dem neunten Gang stiegen wir aus und überquerten einen Korridor zum Privatbüro des Direktors. Wir gingen durch ein Vorzimmer, dessen Wände mit Photos tapeziert waren, alle von der Farm des Sheriffs, auf der Gefangene einen großen Teil ihrer Strafzeit verbringen.
Der Direktor war ein Mann von etwa Fünfzig. Er sah in seiner grauen Uniform sehr schmuck aus. Er schien mich zu erwarten. Der Mann in Hemdsärmeln verschwand, und der andere wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte.
Dann stand er auf und ging zu einem zweiten Schreibtisch, der unbenutzt aussah. Er war von schwerem schwarzen Holz, schön geschnitzt, und offenbar da, um die Besucher zu beeindrucken. Auf der Schreibunterlage stand eine blaue Vase mit einer einzigen Dahlie. An der Wand dahinter hing eine große elektrische Uhr mit dem Namen des Juweliers auf dem Zifferblatt, also ein Geschenk für geleistete Dienste. Photos von Offizieren und ihren Frauen schmückten die Wände. Es war ein Raum, in dem ein Mann die größte Zeit seines Lebens zugebracht hatte.
Der Direktor setzte sich gewichtig in einen hochlehnigen Sessel.
»Herr Fuller hat mich angerufen«, sagte er. »Er bat mich, ich solle Sie mit Hinds sprechen lassen.«
Nachdenklich sah er durch seine Brille. Er machte den Eindruck eines Gelehrten, der nicht in eine Uniform gehörte.
»Ja. Ich bat Herrn Fuller, mit Ihnen zu sprechen«, antwortete ich.
»Herr Fuller ist der erfolgreichste – und auch der teuerste – Strafanwalt unseres Staates«, begann er wieder. »Ich möchte gern wissen, was ihn veranlaßt, einen so hoffnungslosen Fall zu übernehmen.«
»Hat Hinds gestanden?«
»O nein – diese Sorte gesteht nie«, erwiderte er ruhig. »Aber Hinds selbst hat kein Geld. Wenn ich recht verstand, haben Sie großes Interesse an diesem Fall. Haben Sie Herrn Fuller als Anwalt für Hinds engagiert?«
Er lächelte mich wohlwollend an, und ich war überzeugt, daß unsere Unterhaltung irgendwo im Nebenraum aufgenommen wurde.
»Ich bin Pathologe«, sagte ich, »und habe außerordentliches Interesse für Fälle wie Hinds'. Steht dem etwas entgegen, daß ich ihn sprechen kann?«
Der Beamte überlegte. Er war etwas enttäuscht, denn er hatte eine Antwort auf seine Frage erwartet. Doch da Fuller es nicht für richtig gehalten hatte, ihn zu unterrichten, lag für mich kein Grund vor, mehr zu sagen als mein Anwalt.
»Ich weiß, daß Sie nicht mit Hinds verwandt sind«, sagte der Gefängnisdirektor. Er hatte Erkundigungen eingezogen.
Wir saßen einen Augenblick schweigend, bis er wieder anfing:
»Hinds ist hier im Gefängnis sehr unbeliebt. Er macht uns viele Schwierigkeiten. Ich mußte ihn sogar ein paar Tage in Einzelhaft stecken, da er einen Beamten geschlagen hatte. Das kommt in meinem Gefängnis selten vor. Die Beamten sind freundlich und höflich. Die sämtlichen anderen Gefangenen können Hinds nicht leiden.«
Der Direktor sah auf und lächelte ein wenig, mit der Miene eines Professors, der stolz auf seine Klasse ist.
»Meine Jungens verabscheuen Feigheit. Grausamkeit nehmen sie nicht übel. Zu einem Massenmörder sehen sie sogar auf. Aber diese feige Art zu morden!«
Er war auf dem besten Wege, einen Vortrag über Kriminal-Psychologie zu halten. Gefängnisbeamte sind ebenso wie Ärzte überladen mit den Geschichten ihrer Fälle und müssen ab und zu ein Ventil haben. Ich habe selten einen Arzt getroffen, der nicht schriftstellerte. Gefängnisbeamte sind ebenso schlimm.
Ich mußte höflich zuhören, denn es stand in seiner Macht, mir den Zutritt zu Hinds zu verweigern.
»Sie kennen ihn gut?« fragte er wie nebenbei.
»Nein«, sagte ich, froh, daß er nicht gefragt hatte, ob ich Hinds überhaupt kannte.
»Hm – und er kennt Sie auch nicht!« sagte er und lächelte. »Das macht Ihre Bitte sehr ungewöhnlich.«
»Ich schreibe ein Buch über Psychopathologie«, erwiderte ich, um ihm einen annehmbaren Grund zu geben.
Er nickte. »Kennen Sie die Klage?« fragte er. Als ich nicht antwortete, erklärte er: »Er hat mit seinem Wagen eine Frau überfahren – absichtlich.«
Er studierte mein ausdrucksloses Gesicht und fügte hinzu: »Und das Grausamste daran ist: Er fuhr zurück und dann nochmals über sie weg, ihr Gesicht zerquetschend! Dann gab er Gas. Aber wir haben ihn bekommen. Der Wagen hinterließ deutliche Reifenspuren.«
»Seine Geliebte?« fragte ich.
»Seine Mutter«, antwortete der Direktor.
Und als sei diese Enthüllung zu brutal für ihn, der doch an grausame Morde gewöhnt war, fuhr er fort: »Natürlich erinnert er sich nicht, jemanden überfahren zu haben. Er sagt, er kam von einem Bierabend und war leicht betrunken. Ein seltsames Zusammentreffen, daß es gerade seine Mutter war, die er tötete!«
»Das Motiv?« fragte ich wieder.
Der Beamte zuckte die Achseln und wurde plötzlich verschlossen. Als Hüter einer sonderbaren Auslese Gefangener verlangte man von ihm, unparteiisch zu sein, doch gegen Hinds schien er eine starke persönliche Abneigung zu hegen.
Nach einer gewissen Zeitdauer beeinflußt die Gefängnisatmosphäre die Wärter wie die Sträflinge gleichermaßen. Nach ein paar Jahren Dienst beginnen auch die Wärter die Welt in einem anderen Licht zu sehen. Recht und Unrecht werden zu abstrakten Begriffen, und es entwickelt sich ein starkes Verständnis für die Motive der Verbrechen.
Nur ein Mann, der mit seinen Händen gearbeitet hat, kann den Arbeiter verstehen. Nur wer auf Schiffen gefahren ist, versteht Männer, die das Meer lieben. Jeder künftige Richter sollte eine Lehrzeit als Gefängniswärter durchmachen. Die Justiz sollte nicht nur theoretisch gelehrt werden.
Doch in Hinds' Fall verdammten die Sträflinge wie die Wärter den Mörder gleichermaßen.
»Darf ich Hinds sehen?« fragte ich.
Der Direktor stand auf und drückte auf einen Klingelknopf.
»Ich mußte ihn absondern – sonst hätten ihn die anderen Gefangenen umgebracht. Ich habe niemals einen solchen Haß unter ihnen gesehen. Sie würden sein Essen vergiften, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten!«
Ein Beamter trat ein und salutierte gemächlich.
»Bringen Sie Dr. Cory zum fünfzehnten Stockwerk«, sagte der Direktor, »und lassen Sie Hinds holen.«
Der Mann salutierte wieder, und wir verließen das Zimmer.
Wir gingen hinüber zum Aufzug. Die eisenvergitterte Tür glitt zurück.
»Fünfzehn«, sagte der Beamte zu dem farbigen Liftjungen. Er sah mich aus den Augenwinkeln an, als nähme er es mir übel, daß ich Hinds besuchen wollte.
Wir kamen an. Die Tür öffnete sich in einen großen Raum, in dem Tische mit zehnzölligen Scheidewänden längs der Mitte die Besucher von den Sträflingen trennten.
»Warten Sie hier. Ich muß ihn aus Highpower holen«, sagte der Beamte unfreundlich.
Highpower ist der zehnte Stock, wo die Mörder gefangengehalten werden.
Ich setzte mich auf eine Bank und las die Aufschrift über der Scheidewand: »Diese Seite ist für Anwälte.«
Auf der anderen Seite stand: »Gefangene.«
Der Raum war ziemlich voll. Gefangene in blauen Overalls traten ein, setzten sich und sprachen mit leiser Stimme. Die Anwälte nahmen die Hüte nicht ab, und alle schienen es eilig zu haben.
Der Raum summte von Stimmen. Im gelben Licht sahen die Gesichter bleich aus.
Mein Polizist kehrte zurück. Hinds war bei ihm.
An der eisenverrammelten Tür, die von zwei Beamten bewacht wurde, ließ man Hinds frei. Der eine Wärter, der ihn begleitet hatte, deutete finster auf mich, dann drehte er sich rasch um und ging weg, als fürchte er, durch die Nähe Hinds' die Pest zu bekommen.
Er trat zu mir und sah mich leer an.
»Mein Name ist Patrick Cory«, sagte ich über die Breite des Tisches und streckte ihm die Hand hin, die er übersah. Er setzte sich mir gegenüber und sah mich an, als sei ich der Gefangene und er der Besucher von draußen.
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