„Nun, dieses Problem kennen wir ja bereits“, stellte er etwas gereizt fest. „Mit Ausnahme der wenigen Minuten von gestern ist der Patient seit seiner Einlieferung physisch nicht bei Bewußtsein, und dennoch hat Doktor Prilicla immer wieder rationale Gedankengänge des EPLH wahrgenommen. Dasselbe Phänomen tritt nun auch wieder auf, obwohl der Patient unter Narkose steht. Ich selbst hab dafür keine Erklärung, und wahrscheinlich wäre dafür eine chirurgische Untersuchung des Gehirns notwendig. Dazu haben wir jetzt aber keine Zeit. Im Augenblick ist nur wichtig, daß der Patient körperlich zu schwach ist, um sich zu bewegen oder Schmerzen zu empfinden. Können wir jetzt anfangen?“ An Prilicla gewandt fügte er hinzu: „Achten Sie bitte weiterhin auf sämtliche Ausstrahlungen des Patienten während der Operation, Doktor. Nur für alle Fälle.“
Etwa zwanzig Minuten lang wurde schweigend gearbeitet, obwohl die Operation selbst eigentlich keine sonderlich hohe Konzentration erforderte. Es war fast so, als würde man in einem Garten Unkraut jäten, nur daß alles, was wuchs, Unkraut war und Pflanze für Pflanze samt Wurzel herausgerissen werden mußte. Conway schälte die befallenen Hautpartien ab, und unter Anleitung des Tralthaners untersuchte der OTSB mit seinen haardünnen Tentakeln die Stellen noch einmal genauer und entfernte dann eventuell noch vorhandene Wurzelfasern, während Conway schon woanders weitermachte. Innerlich hatte sich Conway bereits auf die zugleich langwierigste und langweiligste Operation seiner Karriere eingestellt.
„Ich empfinde zunehmende Angstgefühle, verbunden mit gesteigerter Entschlußkraft“, bemerkte Prilicla plötzlich. „Die Angst wird immer stärker.“
Als einziger Kommentar dazu fiel Conway nur ein kopfschüttelndes Grunzen ein.
Fünf Minuten später meldete sich der Tralthaner zu Wort:
„Wir müssen langsamer vorgehen, Doktor. Wir sind jetzt an einer Stelle, wo die Wurzelfasern sehr viel tiefer gehen.“
„Oje, ich kann die Wurzeln schon mit meinen eigenen Augen sehen!“ sagte Conway etwas später. „Wie tief sitzen sie jetzt?“
„Etwa zehn Zentimeter“, antwortete der Tralthaner. „Und noch etwas Doktor, während wir arbeiten, graben sie sich vor unseren Augen immer tiefer ein.“
„Aber das ist doch unmöglich!“ fluchte Conway. „Wir sollten uns sofort eine andere Stelle ansehen.“
Er spürte, wie ihm Schweißperlen auf die Stirn traten und Priliclas schlaksiger und feingliedriger Körper direkt neben ihm leicht zu zittern begann. Das lag aber nicht an den emotionalen Ausstrahlungen des Patienten, sondern allein an Conways Unbehaglichkeitsgefühl, das ebenso auf den Empathen zusehends stärker übertragen wurde — die neue und zwei andere, zufällig ausgesuchte Hautstellen wiesen dasselbe Phänomen auf: Die Wurzelfasern der sich abschälenden Hautpartien gruben sich zusehends immer tiefer ein.
„Sofort aufhören!“ befahl Conway entsetzt.
Eine ganze Weile sagte niemand etwas. Prilicla zitterte, als würde ein Orkan durch den Raum fegen. Der Tralthaner hantierte verlegen an den Kontrollgeräten herum, wobei er seine vier Augen auf einen völlig unwichtigen Regler gerichtet hatte. O’Mara beobachte Conway genau, und sein abwägender Blick schien sogar ein wenig von Mitleid geprägt zu sein. Mitleid empfand er, weil er erkennen konnte, wann jemand ernsthaft in der Klemme saß, und abwägend schaute er, weil er herausfinden wollte, ob das aktuelle Problem auf Conways Kappe ging oder nicht.
„Was ist passiert, Doktor?“ fragte er schließlich mit ruhiger Stimme.
Conway schüttelte wütend den Kopf. „Das weiß ich auch nicht. Gestern hat der Patient nicht auf die medikamentöse Behandlung angesprochen, und heute widersetzt er sich der Operation. Auf alles, was wir mit ihm anzustellen versuchen, reagiert er völlig abwegig. Das ist doch verrückt! Unser Versuch, seine erkrankten Hautpartien durch einen operativen Eingriff zu entfernen, hat bei ihm irgendeine Reaktion ausgelöst, wodurch die Wurzeln mittlerweile so tief nach innen wachsen, daß sie lebenswichtige Organe durchdringen werden, jedenfalls dann, wenn sich ihr gegenwärtiges Wachstumsverhalten nicht innerhalb der nächsten Minuten entscheidend verändert. Und was das heißt, können Sie sich ja vorstellen.“
„Das Angstempfinden des Patienten läßt allmählich nach“, warf Prilicla ein. „Seine Entschlußkraft hingegen ist nach wie vor stark ausgeprägt.“
Jetzt schaltete sich auch der Tralthaner ein. „Mir ist an diesen rankenähnlichen Wurzelfasern, durch die die Haut mit dem Körper verbunden ist, etwas aufgefallen. Wie Sie wissen, hat mein OTSB extrem empfindliche Sehorgane, und er hat mir gerade zu verstehen gegeben, daß diese Ranken an beiden Enden verwurzelt zu sein scheinen. Deshalb ist es unmöglich zu sagen, ob das Wachstum den Körper angreift oder der Körper dieses Wachstum absichtlich beibehält.“
Conway schüttelte gereizt den Kopf. Dieser Fall war voll von widersinnigen Widersprüchen und völlig unerklärlichen Ungereimtheiten. Erstens hätte kein Patient in der Lage sein dürfen — ganz unabhängig vom Grad seiner geistigen Verwirrung —, sich binnen weniger Minuten gegen die Wirkung eines Medikaments zu wehren, das normalerweise stark genug gewesen wäre, die Krankheit innerhalb einer halben Stunde völlig zu heilen. Zweitens wäre es normal gewesen, wenn der EPLH, wie jedes andere Wesen auch, seine erkrankten Hautpartien abgestoßen hätte, die dann vom Körper auf natürlichem Wege durch neues Gewebe ersetzt worden wären, anstatt sie unter allen Umständen behalten zu wollen. Der ganze Fall schien nicht nur rätselhaft, sondern schier hoffnungslos zu sein.
Dabei hatte es bei Einlieferung des Patienten nach einem ganz normalen Routinefall ausgesehen. Conway hatte sich weit mehr Sorgen um die Vorgeschichte des Patienten gemacht als um dessen Krankheit, deren erfolgreiche Behandlung ihm damals noch selbstverständlich erschienen war. Aber seither mußte er irgend etwas übersehen haben, dessen war er sich jetzt sicher, und wegen dieser Unterlassungssünde würde der Patient wahrscheinlich innerhalb der nächsten Stunden sterben. Vielleicht war er zu überzeugt von sich gewesen und hatte eine voreilige Diagnose gestellt, was bedeuten würde, daß er seine Sorgfaltspflicht auf fast kriminelle Weise vernachlässigt hätte.
Es war immer furchtbar, einem Patienten nicht mehr helfen zu können, und im Orbit Hospital war der Verlust eines Patienten etwas höchst Seltenes. Aber jemanden zu verlieren, dessen Krankheitszustand in der gesamten zivilisierten Galaxis von niemandem als ernst erachtet worden wäre. Conway fluchte laut, verstummte dann aber, weil ihm schlichtweg die Worte fehlten, die seinem derzeitigen Gemütszustand gerecht geworden wären.
„Ruhig Blut, mein Junge“, tröstete ihn O’Mara mit väterlicher Stimme und drückte Conway am Arm.
Normalerweise war O’Mara ein griesgrämiger, laut polternder und unnahbarer Tyrann, der, wenn man ihn um Hilfe bat, sich erst einmal hinsetzte und lediglich abfällige Bemerkungen vom Stapel ließ, während sich die betroffene Person, vor Scham errötet, verlegen hin und her wand, bis sie es schließlich vorzuziehen pflegte, das betreffende Problem lieber selbst zu lösen. Dieses gegenwärtige untypische Verhalten des Chefpsychologen war nur der Beweis für das, was Conway zu seiner eigenen Enttäuschung eh vermutete — es bewies, daß er, Conway, vor einem Problem stand, das er allein nicht lösen konnte.
Aber O’Maras Gesichtsausdruck verriet mehr als nur Sorge um ihn — wahrscheinlich war er insgeheim sogar ein wenig froh darüber, daß sich die Dinge so entwickelt hatten, was nach Conways Dafürhalten allerdings überhaupt nichts über den Charakter O’Maras aussagte. Denn er wußte, daß der Major, wäre er in seiner Lage gewesen, auch alles getan hätte, den Patienten zu heilen, und sich über das fruchtlose Ergebnis genauso geärgert hätte. Vielmehr schien sich der Chefpsychologe voller Verzweiflung zu fragen, welche Gefahren dem Orbit Hospital drohen könnten, wenn das geistig verwirrte Wesen, das offenbar große und bislang unbekannte Kräfte besaß, sich befreien würde. Außerdem stellte sich O’Mara möglicherweise die Frage, ob er neben einem gesunden EPLH mit klarem Verstand nicht sogar wie ein dummer kleiner Junge aussehen könnte.
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