Was für ein verrückter Halbgott! Ein total verdrehter Typ! fluchte Conway in Gedanken. Es war typisch O’Mara, stets ihm die schrägsten Vögel im Hospital anzuvertrauen. Laut sagte er: „Die einzige Erklärung, die ich für diese merkwürdige Geschichte hab, ist die, daß die von Ihnen empfangenen geistigen Strahlungen von einem Gehirn stammen, dessen Kontakt zu sämtlichen sensorischen Organen abgeschnitten oder blockiert ist. Ursache dafür ist aber nicht der körperliche Zustand des Patienten, folglich muß es sich um ein psychologisches Problem handeln. Ich würde meinen, das Wesen bedarf dringend psychiatrischen Beistands.
Trotzdem sollten wir uns zunächst darauf konzentrieren, die erkrankten Hautstellen zu behandeln“, fuhr er nach einer kurzen Denkpause fort, „zumal unsere Seelenklempner mit einem körperlich gesunden Patienten sehr viel mehr anfangen können als mit einem erkrankten.“
Im Orbit Hospital war längst ein Mittel gegen die Form von Epitheliomie entwickelt worden, an der der Patient erkrankt war, und die Pathologie hatte bereits verlauten lassen, es sei auch für den Metabolismus des EPLH
geeignet und habe bei vorschriftsmäßiger Anwendung keine schädlichen Nebenwirkungen. Conway brauchte nur wenige Minuten, um eine erste Testdosis abzumessen und subkutan zu injizieren. Prilicla begab sich rasch an seine Seite, um den Patienten besser sehen zu können. Wie beide wußten, handelte es sich hierbei um eines der seltenen „Wundermittel“, dessen Wirkung innerhalb weniger Sekunden eintrat.
Aber nach zehn Minuten war noch immer nichts zu sehen.
„Ganz schön zäher Bursche“, murmelte Conway und injizierte daraufhin die maximal zulässige Dosis.
Fast im selben Augenblick nahm die betroffene Hautstelle eine dunkle Färbung an und verlor ihr trockenes, brüchiges Aussehen. Die dunkle Stelle breitete sich zusehends aus, und einer der Tentakel zuckte leicht.
„Was sagt sein Verstand?“ fragte Conway.
„Fast genau dasselbe wie vorher“, antwortete Prilicla, „allerdings kann ich seit der letzten Injektion zunehmende Besorgnis bei dem Patienten feststellen, und er strahlt Gefühle aus, als fasse er irgendeinen Entschluß. irgendeinen Entschluß.“
Prilicla begann heftig zu zittern; ein eindeutiges Indiz dafür, daß die emotionale Ausstrahlung des Patienten stärker geworden war. Conway setzte gerade zu einer Frage an, als ein scharfes, reißendes Geräusch seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf den Patienten lenkte. Der EPLH zerrte und riß an den Gurten, mit denen seine Tentakel an den OP-Tisch gefesselt worden waren. Zwei Riemen waren bereits aus ihren Verankerungen gerissen worden, und der EPLH hatte jetzt einen Tentakel völlig frei — und zwar ausgerechnet den mit der Keule.
Conway konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken, denn die Keule — das „Nonplusultra“ aller stumpfen Waffen — hätte ihm fast den Kopf abgeschlagen, verfehlte ihn aber um Haaresbreite. Der Lieutenant hatte allerdings weniger Glück: Der knöcherne Streitkolben krachte am Ende der ausholenden Bewegung mit aller Gewalt gegen seine Schulter und schleuderte ihn mit solcher Wucht quer durch den Raum, daß er von der gegenüberliegenden Wand fast wieder ins Zimmer zurückprallte. Prilicla, dessen angeborene Feigheit lebensnotwendig war, haftete bereits dank seiner mit Saugnäpfen versehenen Füße an der Decke, dem einzig sicheren Zufluchtsort im ganzen Raum.
Conway lag flach auf dem Boden und hörte nur, wie weitere Riemen zerrissen wurden. Dann sah er, daß ein zweiter und ein dritter Tentakel umherzutasten begannen. Er wußte, daß sich der Patient binnen weniger Minuten völlig befreit haben würde und sich dann nach Belieben im Raum bewegen könnte. Sofort robbte er ein Stück näher an den OP-Tisch heran, ging in die Hocke und sprang mit einem gewaltigen Satz auf den mittlerweile wild um sich schlagenden EPLH zu. Es gelang ihm, den Körper des Patienten direkt unterhalb der Tentakel fest zu umfassen, wobei er von den bellenden Geräuschen des EPLH fast taub wurde, denn sein Kopf lag direkt neben dessen Sprechöffnung. Das Bellen wurde als „Helft mir! Helft mir!“ übersetzt. Gleichzeitig sah Conway die Tentakelkeule krachend nach unten fahren — dort, wo er nur wenige Sekunden zuvor noch gelegen hatte, hinterließ der mächtige Schlag ein etwa fünf Zentimeter tiefes Loch im Boden.
Den Patienten auf diese Weise anzugreifen mochte auf den ersten Blick tollkühn erscheinen, aber Conway hatte seine Entscheidung durchaus überlegt getroffen, denn nur indem er sich unterhalb der wild um sich schlagenden Tentakel festklammerte, befand er sich außerhalb deren Reichweite, und somit war dieser unwirtliche Platz für ihn die sicherste Stelle im Raum.
Dann sah der den Lieutenant.
Halb liegend, halb sitzend kauerte der Lieutenant mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden. Sein linker Arm baumelte kraftlos herab. In der rechten Hand hielt er eine Pistole, die er zwischen den Knien stabilisierte. Während er am Lauf entlang mit dem einen Auge das Ziel ins Visier nahm, war das andere heimtückisch zusammengepreßt.
Conway forderte den Monitor verzweifelt auf, noch nicht zu schießen, aber sein lautes Flehen ging in dem vom Patienten verursachten Lärm völlig unter. Jeden Augenblick erwartete er das Knallen der Schüsse und das Einschlagen der Kugeln. Er war vor Angst wie gelähmt und konnte sich nicht einmal loslassen.
Dann war plötzlich alles vorbei. Der Patient fiel auf die Seite, zuckte zusammen und blieb regungslos liegen.
Der Lieutenant steckte seine unbenutzte Pistole wieder ins Halfter und rappelte sich hoch. Conway befreite sich von dem Patienten, und Prilicla krabbelte wieder von der Decke herunter.
„Mhm, ich nehme an, Sie wollten nicht schießen, solange ich noch an dem Patienten hing, stimmt’s, Lieutenant?“
Der Monitor schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin eigentlich ein guter Schütze, Doktor, und hätte ihn auch treffen können, ohne Sie zu gefährden. Aber er schrie die ganze Zeit „Helft mir! Helft mir“, und so etwas geht einem ganz schön unter die Haut.“
Der Lieutenant war zur umgehenden Behandlung seines gebrochenen Oberarmknochens fortgeschickt worden, und etwa zwanzig Minuten später, als Conway und Prilicla den EPLH-Patienten mit weit stärkeren Riemen als zuvor am OP-Tisch festbanden, bemerkten die beiden, daß die dunkle, scheinbar geheilte Hautpartie wieder genauso spröde und brüchig war wie vor der Behandlung. Offensichtlich hatte die Spritze, die Conway dem Patienten verabreicht hatte, trotz der starken Dosis nur eine vorübergehende Wirkung gehabt, was äußerst ungewöhnlich, ja eigentlich unmöglich war.
Seit Prilicla hinzugezogen worden war und sich der Fall dank seiner empathischen Fähigkeit nun in einem völlig neuen Licht darstellte, war Conway der festen Überzeugung, daß die Ursache der Krankheit ein psychologisches Problem sein mußte. Außerdem wußte er, daß ein stark verwirrter Geisteszustand einem Körper enormen Schaden zufügen konnte. Aber dieser Schaden hier war rein physischer Natur, und daß die Behandlungsmethode — deren nachhaltige Wirksamkeit von der Pathologie immer wieder nachgewiesen worden war — normalerweise anschlug, war eine ebenso unumstößliche Tatsache. Und unabhängig von der Schwere einer Krankheit dürfte sich kein Wesen einer physikalischen Realität entziehen können, denn letztendlich unterlag im Universum alles gewissen unveränderlichen Naturgesetzen.
Soweit Conway die Lage einschätzen konnte, gab es dafür nur zwei Erklärungen: Entweder wurden diese Naturgesetze von dem Patienten bewußt ignoriert — weil es sich wirklich um ein göttliches Wesen handelte, das diese Gesetze selbst geschaffen hatte und somit auch unterlaufen konnte —, oder jemand — oder irgendeine merkwürdige Kombination aus Zufällen und Fehlinformationen — spielte ihnen einen Streich. Conway zog die zweite Möglichkeit der ersten bei weitem vor, da ihm die erste zu abstrus erschien, um sie ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Innerlich weigerte er sich einfach, in dem Patienten etwas anderes als einen normalen, wenn auch etwas exotischen Extraterrestrier zu sehen.
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