„Die einzige Behandlung, der wir die Verletzten bis zur Ankunft im Orbit Hospital unterziehen können, ist die Behebung der Austrocknung und der Unterernährung“, fuhr Conway fort. „Murchison hat Ihnen ja bereits die für den Stoffwechsel geeigneten Nährstoffe mitgeteilt. Sie können natürlich auch die Stichwunden nähen, wenn Sie das für angebracht halten, Prilicla. Falls die erste Fuhre für Sie zu umfangreich ist, und das ist sie in meinen Augen auf jeden Fall, behalten Sie einfach Naydrad auf dem Schiff, und schicken Sie nur den Piloten mit der Bahre wieder zu uns herunter. Dann kann Murchison die Verletzten beim nächsten Flug begleiten und anschließend bei Ihnen auf der Rhabwar bleiben, während Naydrad zum Einladen der letzten Fuhre wieder mit runterkommt.“
Einen Moment lang herrschte Stille, dann antwortete der Empath: „Ich hab verstanden, mein Freund. Aber haben Sie sich auch überlegt, daß bei der Umsetzung Ihres Vorschlags drei Mitglieder des medizinischen Teams lange Zeit auf der Rhabwar sind und sich nur einer, nämlich Sie selbst, auf dem Planeten befindet, wo die medizinische Hilfe gerade am dringendsten benötigt wird? Ich bin mir sicher, daß ich mit all den Hilfsvorrichtungen, die mir auf dem Unfalldeck zur Verfügung stehen, und mit der Unterstützung meiner Freunde Haslam und Chen ganz gut alleine mit diesen Patienten zurechtkommen werde.“
Es war durchaus möglich, daß Prilicla mit den Patienten wirklich alleine zurechtkommen konnte, vorausgesetzt, diese blieben bewußtlos. Falls sie aber in dieser für sie seltsamen und womöglich erschreckenden Umgebung plötzlich zu sich kommen und auf den über ihnen schwebenden, riesigen, aber unglaublich zarten insektenartigen Arzt instinktiv reagieren sollten, dann schauderte es Conway allein bei der Vorstellung, was mit dem Eierschalenkörper und den bleistiftdünnen Beinen des Empathen alles geschehen könnte. Aber bevor er Prilicla von dem Vorhaben abraten konnte, hatte der Empath schon wieder das Wort ergriffen.
„Ich befinde mich natürlich außerhalb der Reichweite Ihrer emotionalen Ausstrahlung“, stellte Prilicla fest, „aber durch meinen langen Kontakt mit Ihnen beiden weiß ich von den starken emotionalen Banden zwischen meiner Freundin Murchison und Ihnen, Conway. Wenn man berücksichtigt, daß auf dem Planeten mit hoher Wahrscheinlichkeit eine gemeingefährliche Lebensform frei herumläuft, spielt diese emotionale Verbindung bei Ihrer Entscheidung, Murchison aufs sichere Schiff zu schicken, ohne Zweifel eine große Rolle. Murchison hingegen wäre möglicherweise emotional weniger unbehaglich zumute, wenn sie bei Ihnen auf dem Planeten bleiben würde.“
Die Pathologin blickte von dem Verletzten auf, um den sie sich gerade kümmerte. „Sind das wirklich deine Überlegungen gewesen?“
„Nein“, log Conway.
Murchison lachte und fragte: „Haben Sie das gehört, Prilicla? Wir haben es hier mit einem vollkommen rücksichtslosen und unsensiblen Menschen zu tun. Ich hätte lieber jemanden wie Sie heiraten sollen.“
„Das ist äußerst schmeichelhaft für mich, meine Freundin“, antwortete der Empath. „Aber Sie haben mir nicht genügend Beine.“
Über Funk war Fletchers mißbilligendes Räuspern über diese plötzliche und ungebührliche Ausgelassenheit zu vernehmen, aber er sagte trotzdem nichts. Wie alle anderen auch mußte er einsehen, daß ein Abbau der ängstlichen Anspannung dringend erforderlich war. „Also gut“, sagte Conway. „Pathologin Murchison wird mit ihren beiden, viel zu wenigen Beinen auf Trugdil dableiben, Prilicla. Aber Oberschwester Naydrad behalten Sie dann oben bei sich, denn bei der Vorbereitung der Patienten auf die Untersuchung und Behandlung ist sie bestimmt eine größere Hilfe als der Ingenieurs- oder Kommunikationsoffizier. Schicken Sie statt dessen Haslam oder Dodds zusammen mit der Bahre und Arzneimitteln, die wir Ihnen später noch im einzelnen benennen werden, zurück. Haben Sie noch Fragen?“
„Nein, mein Freund“, antwortete Prilicla. „Außerdem dockt die Fähregerade an.“
Murchison und Conway wandten sich wieder mit ganzer Aufmerksamkeit den Verletzten zu, während der Captain den Rumpf des Wracks untersuchte. Sie konnten beide hören, wie er die Außenhaut abklopfte und dabei die typischen Kratzgeräusche erzeugte, die beim Ziehen der magnetischen Schallsensoren über Metallflächen entstanden. Der Wind wechselte ständig die Richtung, so daß die Verletzten im Schatten des Felsvorsprungs zwar vor der Sonne, nicht aber vor dem vom Wind aufgepeitschten Sand geschützt waren.
Haslam berichtete von der Rhabwar, daß die Gegend gerade von einem kleinen, örtlich begrenzten Sandsturm heimgesucht werde, der sich allerdings noch vor der Rückkehr der Landefähre in einer halben Stunde wieder gelegt haben müsse. Zur Beruhigung fügte er noch hinzu, daß sich in der ganzen Gegend nichts regen würde — mit Ausnahme von ihnen selbst und einigen Gruppen der zur Fortbewegung fähigen Dornbüsche, die allerdings bei einem Wettlauf nicht einmal eine altersschwache Schildkröte schlagen könnten.
Bis auf drei Unfallopfer befanden sich inzwischen sämtliche ETs im Schutz des Felsvorsprungs. Während Conway die restlichen Verletzten herbeischleppte, schützte Murchison die anderen vor Wind und Sand, indem sie die ETs locker in eine durchsichtige Kunststoffdecke einwickelte, nachdem sie zuvor jeden Überlebenden mit einer kleinen Sauerstoffflasche ausgestattet hatte. Diese Behälter setzten jeweils eine gewisse Menge Sauerstoff frei, die genau auf die Deckung des Stoffwechselbedarfs des betreffenden Wesens berechnet worden war. Conway und Murchison waren zu dem Schluß gekommen, daß diese provisorischen Zelte den Patienten keinen Schaden zufügen konnten, da der reine Sauerstoff die schwache Atmung und das Verheilen der Wunden unterstützen würde — obwohl man sich bei einer vollkommen neuen Lebensform natürlich nie über irgend etwas absolut sicher sein konnte. Sicher war nur, daß bislang noch keiner der Verletzten durch diese Behandlungsmethode sein Bewußtsein wiedererlangt hatte.
„Mir macht zu schaffen, daß bei allen diese gleich tiefe Bewußtlosigkeit herrscht“, sagte Murchison, während Conway mühsam einen Alien herbeischleppte, der von ihnen zuvor als DCOJ klassifiziert worden war. „Sie steht in keinem Verhältnis zur Anzahl oder Stärke der Verletzungen. Könnten diese Wesen nicht eine Art Winterschlaf halten?“
„Die Bewußtlosigkeit ist ja vermutlich ganz schlagartig eingetreten“, entgegnete Conway skeptisch. „Dem Captain zufolge befanden sich die Wesen gerade auf der Flucht aus dem Schiff. Normalerweise hält ein Wesen nur an einem sicheren Ort seinen Winterschlaf, aber garantiert nicht dort, wo ihm unmittelbare Gefahr für Leib und Leben droht.“
„Ich hatte auch eher an eine unfreiwillige Form des Winterschlafs gedacht“, erwiderte Murchison, „der vielleicht durch ihre Verletzungen hervorgerufen wurde und sie in die Lage versetzt, bis zum Eintreffen von Hilfe zu überleben. Was war denn das?“
Das war ein markerschütterndes, metallisches Kreischen, das vom Wrack herüberdrang. Das Geräusch hielt ein paar Sekunden lang an, setzte für einen Augenblick aus und ertönte dann von neuem. Murchison und Conway hörten in ihren Helmkopfhörern jemanden schwer atmen — das konnte nur Fletcher sein!
„Captain“, rief Murchison, „ist bei Ihnen alles in Ordnung?“
„Alles okay, Murchison“, antwortete Fletcher sofort. „Ich hab eine Luke gefunden, die anscheinend in den Laderaum führt. Diese Luke ist — oder war — nicht der Einstieg zu einer Luftschleuse, sondern eine ganz einfache luftdichte Tür. Als das Schiff umgekippt ist, hat sich die untere Ecke in den Sand gebohrt und die Tür ließ sich nicht ganz öffnen. Inzwischen hab ich aber den Sand weggeräumt. Die Luke läßt sich jetzt ungehindert öffnen, aber beim Absturz hatten sich die Scharniere leicht verzogen, wie sie vielleicht gehört haben. Zwei Insassen wollten nach dem Absturz fliehen, konnten sich aber nicht durch die enge Öffnung zwängen. Der eine ist ein großer Alien und der andere gehört zu der mittelgroßen Art. Beide haben Amputationswunden und rühren sich nicht. Soll ich Ihnen die beiden bringen?“
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