„Er hat mir seinen Namen selbst gesagt“, unterbrach ihn Cha Thrat. „Wir haben uns unsere Namen verraten, während wir uns über meine Beobachtungen bezüglich seiner unzulänglichen Behandlung unterhalten haben.“
„Sie haben seine Behandlung als unzulänglich bezeichnet?“ fragte O'Mara ungläubig. Er stieß einen unübersetzbaren Laut aus und fuhr dann fort: „Erzählen Sie mir ganz genau, was Sie ihm gesagt haben.“
Cha Thrat zögerte. Der AUGL hatte inzwischen die dunkle Ecke verlassen und bewegte sich wieder auf sie zu, diesmal aber langsamer. Er hielt auf halbem Wege an, schwebte mit reglosen Flossen und starrem Schwanz auf der Stelle, wobei er die streifenförmigen Tentakel wie einen wallenden, kreisförmigen Fächer um sich herumgeschlagen hatte. Er beobachtete die beiden und lauschte wahrscheinlich aufjedes Wort, das sie miteinander sprachen.
„Wenn ich es mir recht überlege, erzählen Sie es mir lieber nicht“, korrigierte sich O'Mara verärgert. „Zuerst sage ich Ihnen, was ich über den Patienten weiß, und dann können Sie versuchen, meine lückenhaften Kenntnisse aufzubessern. Auf diese Weise vermeiden wir Wiederholungen und sparen Zeit. Ich weiß nämlich nicht, wieviel Zeit er uns fürs Gespräch zugestehen wird, bevor er uns wieder unterbricht. Vermutlich nicht besonders viel, deshalb muß ich schnell reden.“
Bei dem Patienten AUGL-Eins-Sechzehn handelte sich um einen Dauerpatienten, dessen Aufenthaltszeit im Orbit Hospital die der meisten medizinischen Mitarbeiter längst übertroffen hatte. Das Krankheitsbild war und blieb unklar. Mehrere der besten Diagnostiker des Hospitals hatten Eins-Sechzehn untersucht und an bestimmten Stellen der Körperpanzerung Anzeichen für Verformungen gefunden, die zum Teil die körperlichen Beschwerden erklärten: Ein Lebewesen, das fast vollständig in einem Ektoskelett steckte, sich kaum bewegte und eine Art Vielfraß war, konnte unter dem Panzer schließlich nur zunehmen. Die allgemein anerkannte Diagnose lautete Hypochondrie, und dieses Leiden galt als unheilbar.
Der Chalder wurde immer nur dann ernsthaft krank, sobald die Rede davon war, ihn nach Hause zu schicken, und so war das Hospital zu einem Dauerpatienten gekommen. Den Chalder störte das nicht weiter. Ärzte und Psychologen des Hospitals untersuchten ihn damals wie heute in regelmäßigen Abständen, und Assistenzärzte und Schwestern aller im Personal vertretenen Spezies folgten ihrem Beispiel. Zudem wurde Eins-Sechzehn fortwährend von unterschiedlich sanft vorgehenden Studenten gründlich untersucht, von innen nach außen gekehrt und erbarmungslos abgeklopft — und er genoß jede Minute davon. Der Lehrkörper des Hospitals war mit dieser Regelung zufrieden und der Chalder ebenfalls.
„Inzwischen spricht ihm gegenüber niemand mehr von seiner Entlassung“, schloß O'Mara. „Haben Sie mit ihm darüber geredet?“
„Ja“, antwortete Cha Thrat.
O'Mara gab einen weiteren unübersetzbaren Laut von sich, und sie fuhr schnell fort: „Das erklärt auch, warum ihn die übrigen Schwestern nicht beachtet haben, wenn andere Patienten behandelt werden mußten, und der von mir gestellten Diagnose einer unbekannten Herrscherkrankheit zugestimmt haben, die.“
„Sie sollen zuhören, nicht reden!“ unterbrach sie der Terrestrier in scharfem Ton, während der Patient immer näher an sie heranzutreiben schien. „Meine Abteilung hat zwar versucht, die eigentlichen Gründe für Eins-Sechzehns Hypochondrie herauszufinden, aber ich sah mich nicht genötigt, seine Probleme zu lösen, und deshalb bestehen sie immer noch. Das klingt wie eine Entschuldigung, und das ist es auch. Aber Sie müssen verstehen, daß das Orbit Hospital keine psychiatrische Klinik ist und auch nie sein kann. Können Sie sich ein Krankenhaus wie dieses vorstellen, in dem der Großteil der Patienten so vieler verschiedener Spezies, deren bloßer Anblick geistig gesunden Lebewesen Alpträume bereitet, womöglich in guter körperlicher Verfassung, aber ansonsten geistesgestört ist? Es ist für mich so schon schwer genug, die Verantwortung für das geistig-seelische Wohlbefinden des Personals zu tragen, und ich kann gut darauf verzichten, zusätzlich umnachtete Patienten am Hals zu haben, und sei es auch nur ein harmloser Irrer wie Eins-Sechzehn. Wenn ein vom medizinischen Standpunkt kranker Patient Anzeichen geistiger Instabilität aufweist, wird er unter strenger Beobachtung gehalten, falls nötig ruhiggestellt und zur angemessenen Behandlung auf seinen Heimatplaneten zurückgebracht, sobald seine körperliche Verfassung einen solchen Transport zuläßt.“
„Ich verstehe. Das entschuldigt natürlich auch Ihr Verhalten“, bemerkte Cha Thrat.
Die rosa Gesichtsfarbe des Terrestriers wurde dunkler, und er fuhr fort: „Hören Sie genau zu, Cha Thrat, das ist jetzt sehr wichtig. Die Chalder sind eine der wenigen intelligenten Spezies, bei denen die Eigennamen nur zwischen Lebensgefährten, direkten Familienangehörigen oder ganz besonderen Freunden benutzt werden. Jetzt haben Sie, eine Fremde von einer anderen Spezies, den Namen von Eins-Sechzehn aus seinem eigenen Mund erfahren und sogar laut ausgesprochen. Haben Sie das aus Versehen getan? Ist Ihnen bewußt, was dieser Namensaustausch bedeutet? Er bedeutet, daß alles, was Sie dem Chalder gesagt und jede zukünftige Maßnahme, die Sie ihm versprochen haben, genauso bindend ist, wie das feierlichste Versprechen gegenüber der höchsten physischen oder metaphysischen Macht, die man sich vorstellen kann? Begreifen Sie jetzt den Ernst der Lage?“ wollte O'Mara wissen, wobei er einen ruhigen, aber eindringlichen Ton anschlug. „Warum hat er Ihnen seinen Namen verraten? Und worüber haben Sie sich mit ihm genau unterhalten?“
Einen Moment lang konnte Cha Thrat nichts sagen, weil der Patient sehr nah herangekommen war, und zwar so nah, daß sie jede einzelne Zacke der sechs Zahnreihen erkennen konnte. Ein seltsam distanzierter und unbeeindruckter Teil ihres Verstands warf die Frage auf, durch welche evolutionäre Notwendigkeit die oberen drei Reihen länger als die unteren waren. Da klappte das Maul mit einem knöchernen, vom Wasser gedämpften Krachen zu, und der beeindrucktere Teil ihres Gehirns machte sich darüber Gedanken, wie es wohl geklungen hätte, wenn eine Gliedmaße oder gleich der ganze Körper zwischen diese Zähne geraten wäre.
„Sind Sie eingeschlafen?“ raunzte O'Mara sie an.
„Nein“, antwortete Cha Thrat und fragte sich, wie ein intelligentes Wesen eine derart dumme Frage stellen konnte. „Der Chalder und ich haben uns unterhalten, weil er einsam und unglücklich ist. Im Gegensatz zu mir haben die Schwestern für ihn sowieso keine Zeit, da sie ständig mit der prä- oder postoperativen Behandlung anderer Patienten beschäftigt sind. Ich habe dem Chalder von Sommaradva und den Umständen erzählt, die zu meinem Herkommen geführt haben, und auch davon, was ich alles machen könnte, falls ich mich fürs Orbit Hospital als geeignet erweisen sollte. Er sagte mir, ich sei zwar mutig und einfallsreich und vor allem nicht alt und krank, aber zunehmend ängstlich wie er selbst.
Er hat mir erzählt, daß er oft davon geträumt habe, frei im warmen Ozean von Chalderescol II umherzuschwimmen, anstatt in dieser keimfreien, wassergefüllten Kiste mit seinen ungenießbaren Plastikpflanzen“, fuhr sie fort. „Er könne zwar mit den anderen AUGL-Patienten über seinen Heimatplaneten sprechen, aber die stünden während der postoperativen Erholung oft unter Beruhigungsmitteln. Das medizinische Personal sei freundlich und spreche auch in den seltenen Momenten, in denen es dafür Zeit habe, mit ihm. Außerdem hat er mir versichert, er werde niemals aus dem Hospital fliehen, weil er zu alt, ängstlich und krank sei.“
„Aus dem Hospital fliehen?“ staunte O'Mara. „Wenn unser Patient das Orbit Hospital allmählich als Gefängnis betrachtet, ist das, von der psychologischen Seite her gesehen, durchaus als Zeichen der Besserung seines Zustands zu werten. Aber fahren Sie fort. Was haben Sie ihm gesagt?“
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