»Augenblick«, sagt Schadrach. Das sind keine Faktoren, zu denen er direkte telemetrische Daten vom Körper des Vorsitzenden empfängt, aber er hat Übung darin, aus den eingehenden Signalen der wichtigsten Stoffwechselfunktionen auf zahlreiche untergeordnete Körperfunktionen zu schließen. »Der Blutzuckerspiegel ist in Ordnung, jedenfalls auf der reduzierten Ebene, wie sie von der Lebernekrose vorgegeben ist. Eine Fibrinanalyse ist schwieriger, aber nach meinem Gefühl sind alle Plasmaproteine etwas schwach. Wahrscheinlich fehlt es am Heparin noch mehr als an Fibrinogen.«
»Und Galle?«
»Seit Freitag stark zurückgegangen. Heute früh wieder etwas mehr als gestern. Aber noch kein kritischer Zusammenbruch irgendeiner Funktion.«
»In Ordnung«, sagt Warhaftig. Er winkt jemanden außerhalb des Kamerabereichs. Seine Hände sind kräftig und ausdrucksstark, mit Fingern, die zugleich Kraft und Feingefühl verraten. Schadrach Mordechai, der kein Chirurg ist, hat selbst kräftige und dabei anmutige Hände, aber der Anblick von Warhaftigs Händen läßt ihm die eigenen immer wie derbe, ungeschickte Metzgerhände erscheinen. »Wir bereiten alles vor. Ich erwarte Sie also um neun. Sonst noch etwas?«
»Ich wollte nur sagen, daß der Patient aufgewacht ist«, antwortet Schadrach ein wenig pikiert und unterbricht die Verbindung.
Als nächstes ruft er das Schlafzimmer des Vorsitzenden und spricht mit einem der Diener. Ja, der Vorsitzende ist wach, er hat schon gebadet und bereitet sich auf die Operation vor. Er wird gleich mit seiner morgendlichen Meditation beginnen. Ob der Doktor ihn zuvor noch sprechen möchte? Der Doktor bejaht. Die Mattscheibe der Sprechanlage erlischt, und es tritt eine längere Pause ein, während der Schadrach seinen Adrenalinspiegel ansteigen fühlt: nach all den Jahren ist es ihm noch nicht gelungen, die Furcht und die Scheu abzulegen, die der alte Mann in ihm wachruft. Er zwingt sich mit einer raschen Konzentrationsübung zur Ruhe, und keinen Augenblick zu früh, denn plötzlich erscheinen auf der Mattscheibe Kopf und Schultern des Vorsitzenden.
Er ist ein abgemagerter, lederig aussehender alter Mann mit einem wie dreieckig aussehenden Schädel, hohen Backenknochen, undurchdringlichen Augen unter schweren, faltigen Lidern, dünnen Lippen, die dem Mund einen harten, unbarmherzigen Zug verleihen. Die Hautfarbe ist mehr bräunlich als gelblich, das noch immer dichte weiße Haar schwarz gefärbt und glatt zurückgekämmt. Das Gesicht flößt Furcht ein, seltsamerweise aber auch Vertrauen; man spürt, daß ihm von dem, was um ihn vorgeht, nur wenig entgeht, und daß er ein Mann ist, dem man getrost die Bürger der ganzen Welt aufladen kann: er wird sie klaglos und verantwortungsbewußt tragen. Das jüngste Leberversagen hat sichtbare Wirkungen auf seine Erscheinung gehabt: ein Dunkeln der Haut über dem normalen Bronzeton hinaus, Pigmentflecken auf den Wangen, ein uncharakteristisch fiebriger Glanz der Augen — aber er scheint noch immer ein Mann von straffer Haltung und unerschöpflicher Kraftreserven zu sein, ein Mann, von der Natur dazu bestimmt, zu überdauern und zu herrschen.
»Doktor«, sagt er. Seine Stimme ist matt und rau, von geringer Variationsbreite, nicht die Stimme eines guten Volksredners. »Wie geht es mir heute morgen?«
Es ist ein alter Scherz zwischen ihnen. Der Vorsitzende lacht ein wenig, und Schadrach bringt ein süßsäuerliches Lächeln zustande.
»Kräftig, ausgeruht, mit einem etwas niedrigen Blutzuckerspiegel, aber im allgemeinen wie erwartet«, antwortet er gewissenhaft. »Warhaftig erwartet Sie bereits. Er möchte Sie um neun im Operationssaal haben.«
»Dies wird meine vierte Leber sein.«
»Ihre dritte, Vorsitzender«, sagt Schadrach. »Ich habe die Unterlagen durchgesehen. Die erste Verpflanzung war 2005, die zweite 2010 und nun…«
»Sie haben vergessen, Doktor, daß ich mit einer Leber geboren wurde. Die sollten wir mitzählen. Schließlich bin ich auch nur ein Mensch, nicht wahr? Wir sollten die Organe nicht vergessen, mit denen ich geboren wurde.« Die schweren Lider heben sich ein wenig, und ein Blick durchbohrt Schadrach. Ja, auch nur ein Mensch: man muß immer versuchen, sich das zu vergegenwärtigen. Der Vorsitzende ist auch nur ein Mensch, obwohl seine Bauchspeicheldrüse eine winzige Plastikscheibe ist und sein Herz ständig von einem elektrischen Schrittmacher angespornt wird; obwohl seine Nieren in fremden Körpern gewachsen sind, und seine Milz, die Hornhäute der Augen, Speiseröhre, Brustdrüse, Herzschlagader, Magen und — ja, er ist zweifellos menschlich, aber manchmal fällt es schwer, daran zu glauben. Und manchmal, wenn man in diese unwiderstehlichen, undurchdringlichen Augen blickt, sieht man nicht das göttliche Blitzen höchster Autorität, sondern etwas anderes, einen trüben Ausdruck von Müdigkeit oder vielleicht Überdruß, einen Ausdruck, der zugleich Todessehnsucht und Todesfurcht zu enthalten scheint. Dschingis Khan II. Mao ist von Todesgedanken geplagt, die er nur seinem Leibarzt anvertraut und das selten. Nach neun Jahrzehnten klammert er sich so verzweifelt ans Leben, daß er jede körperliche Qual auf sich zu nehmen bereit ist, um damit einen weiteren Monat, ein weiteres Jahr Lebenszeit zu erkaufen. Er lebt in einer schrecklichen Furcht vor dem Sterben, aber er ist gleichzeitig vom Tod fasziniert, besessen von der Vorstellung des Auslöschens, das er ständig vertagt. Schadrach hat ihn von der ›Reinheit des Seins‹ sprechen hören. Vom Kommen des süßen Todes will er nichts wissen, gleichwohl genießt er die verlockende Süßigkeit des Gedankens daran noch im schaudernden Sichabwenden. Schadrach argwöhnt, daß nur ein solcher Mann den Wunsch verspüren kann, sich zum Herren über das zu machen, was aus dieser Welt geworden ist. Aber wie kann der alte Mann, wenn er träumerisch über der zarten Schönheit des Todes brütet, dieses unstillbare Verlangen nach ewigem Leben haben?
»Kommen Sie um neun zu mir«, sagt der Vorsitzende.
Schadrach nickt der erloschenen Mattscheibe zu.
In der Zeit, die ihm noch bleibt, ehe er gehen und den Vorsitzenden abholen muß, entledigt sich Schadrach Mordechai einer seiner regelmäßigen bürokratischen Pflichten: er läßt sich von den Leitern der drei Forschungsprojekte Talos, Phönix und Avatara, die vom Vorsitzenden selbst ins Leben gerufen wurden — und in denen viele nur ein Indiz für die unausweichliche Hybris der Mächtigen sehen —, die täglichen Lageberichte geben. Als Leibarzt des Vorsitzenden hat Schadrach nominell die Oberleitung aller drei Projekte, und er konferiert allmorgendlich mit den Projektleitern, deren Laboratorien in einem niedrigeren Seitenflügel des Regierungspalastes untergebracht sind.
Als erste erscheint Katja Lindman vom Projekt Talos auf der Mattscheibe. »Wir haben gestern die Augenlider kodiert«, erzählt sie ihm sofort. »Das ist einer der größten bisher gelungenen Schritte in unserem Umsetzungsprogramm von der Analogie zur Digitale. Damit haben wir sieben der rund dreihundert grundlegenden kinetischen Merkmale des Vorsitzenden vollständig aufgezeichnet und in Steuerimpulse umgesetzt.« Katja Lindman ist eine stämmig gebaute, üppige Schwedin von beängstigender Intelligenz, dunkelhaarig und cholerisch, eine Frau, die trotz oder wegen ihres dünnlippigen, spitzzahnigen Mundes, der ihr einen Ausdruck bedrohlicher Wildheit verleiht, auf Schadrach eine seltsame Anziehungskraft ausübt. Von den drei Projekten ist das ihrige am weitesten hergeholt, ein Versuch, einen mechanischen Dschingis Khan II. Mao zu entwickeln, eine analoge Einheit, durch die er nach seinem körperlichen Tod weiterregieren kann — eine Gliederpuppe, eine mechanische Nachahmung, die zugleich eine künstliche Fortsetzung seiner Persönlichkeit werden soll. Rein technisch bietet der Bau einer solchen Nachbildung keine unüberwindlichen Schwierigkeiten; das Problem besteht darin, etwas zu schaffen, was über die Walt Disney-Roboter hinausgeht, an die Schadrach sich aus seiner Jugend erinnert, die raffinierten, überraschend lebensechten Maschinen, die in ihren Hauttönungen und Bewegungen und Sprechweisen so verblüffend wirklichkeitsgetreu schienen. DisneyMaschinen sind im vorliegenden Fall nicht ausreichend. Ein Disney-Abraham Lincoln kann die Ansprache von Gettysburg achtmal in der Stunde fehlerlos aufsagen, würde aber niemals imstande sein, mit einer Delegation von Parteitagsabgeordneten aus aller Welt zu verhandeln oder vor dem Ministerrat die ideologischen Grundsätze und Leitbilder der praktischen Politik zu erläutern. Ein Vorsitzender aus Metall und Plastik könnte mit hypnotischer Beredsamkeit die alten Ansprachen wiederholen, aber viel Wert hätte das inmitten der Krisen einer im Umbruch befindlichen Gesellschaft nicht. Nein, es kam darauf an, die Essenz des lebendigen Vorsitzenden einzufangen, zu verschlüsseln und zu einem Programm zu verarbeiten, das weiterwachsen und selbständig reagieren kann. Was den Erfolg des Projekts betrifft, so ist Schadrach ziemlich skeptisch. Er fragt Katja Lindman, wie er es alle paar Wochen zu tun pflegt, welche Fortschritte ihre Abteilung bei der Umsetzung von Gedankenprozessen des Vorsitzenden in verschlüsselte Dateneinheiten erzielt hat, was erheblich schwieriger als die Ausarbeitung von Digitalprogrammen für Mienenspiel und Eigentümlichkeiten der Haltung ist. Sie empfindet die Frage als Drohung und Herausforderung, und in ihren Augen blitzt ein vertrautes Feuer auf; aber dann sagt sie nur: »Wir beschäftigen uns weiterhin mit diesem Problem. Unsere besten Leute arbeiten ständig daran.«
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