Eilig kehrt er in sein eigenes Arbeitszimmer zurück, schließt die Tür und sperrt sie ab.
Kaum fünf Minuten später wird in seinem linken Oberschenkel, nahe der Hüfte, wo er die Gehirnaktivität des Vorsitzenden empfängt, ein plötzliches scharfes Zupfen spürbar. Vier Zimmer weiter ist der alte Mann erwacht.
Inmitten des oft hektischen und aufreibenden Lebens im Regierungspalast stellt Dr. Mordechais Arbeitszimmer eine Insel der Ruhe dar. Der kaum mittelgroße Raum hat drei Zugänge, die jedoch nur von ihm selbst und vom Vorsitzenden benutzt werden können. Einer führt ins private Speisezimmer des Vorsitzenden, einer verbindet das Arbeitszimmer mit Schadrachs eigener Wohnung, und der dritte öffnet sich zum zweigeschossig angelegten Operationsraum für Regierungsmitglieder, hohe Funktionäre und die Beschäftigten des Regierungspalasts.
In der Zurückgezogenheit seines Arbeitszimmers erfreut sich Schadrach Mordechai einiger Augenblicke des Friedens, bevor er sich in die Aufregungen des Tages stürzt. Obwohl der Vorsitzende aufgestanden ist, besteht keine Notwendigkeit zur Eile. Schadrachs eingepflanzte Signalgeber sagen ihm, daß die zwei persönlichen Diener in Dschingis Khan II. Maos Schlafzimmer gekommen sind, dem alten Mann auf die Füße geholfen haben und ihm nun bei der aus behutsamen Armschwingen und Atemübungen bestehenden Frühgymnastik assistieren, die der alte Mann auf Anraten seines Leibarztes jeden Morgen getreulich absolviert. Als nächstes werden sie ihn baden und rasieren, dann werden sie ihn ankleiden und schließlich ins Speisezimmer geleiten. Heute wird ihn wegen der bevorstehenden Operation allerdings kein Frühstück erwarten. Trotzdem bleibt Schadrach ungefähr eine Stunde, ehe er sich seinem Schützling zuwenden muß.
Sehern der bloße Aufenthalt im Arbeitszimmer gibt ihm neuen Auftrieb. Die dunkle, reich geschnitzte Wandtäfelung, die gedämpfte Beleuchtung, der aufgeräumte Schreibtisch aus exotischem Holz, das feine Bücherregal aus Glasstäben und dünnen Travertinplatten, worin er seine unschätzbare Bibliothek klassischer medizinischer Werke verwahrt, die eleganten Vitrinen, die seine beachtliche Sammlung altertümlicher medizinischer Instrumente beherbergen — alles das ist für ihn eine ideale Umgebung, eine vollkommene Zuflucht für den Arzt, der er gern sein würde und gelegentlich sein darf, den Meister der hippokratischen Künste, den Erhalter und Verlängerer von Menschenleben. Nicht, daß dieser Raum ein Ort für die praktische Ausübung der Medizin wäre: die einzigen Instrumente hier sind altertümlich, und was an Geräten vorhanden ist, sind romantische und sonderbare Apparate, seltsam geformte Becher, Skalpelle und Lanzetten, Schröpfköpfe, Messer für den Aderlaß und Brenneisen, Ophthalmoskope und frühe und ungenaue anatomische Modelle, chirurgische Sägen, Blutdruckmesser, elektrische Wiederbelebungsmaschinen, Flaschen mit verrufenen Gegengiften, Trepanierbestecke, ein Mikrotom, Geburtshelferzangen und andere Relikte aus unschuldigeren Zeiten. Die meisten dieser Gegenstände hat er in den vergangenen fünf Jahren gesammelt, nicht zuletzt, um eine berufsmäßige Verwandtschaft zu den großen Ärzten der Vergangenheit herzustellen, denen er sich verbunden fühlt und deren Bücher, selten und glückverheißend, Landmarken der medizinischen Geschichte, seine Regale zieren: die Fabrica des Vesalius, De Motu Cordts von Harvey, Boerhaves Institiones, eine Abhandlung von Laennec über die Auskultation, eine von Beaumont über Verdauung — mit welcher Freude hat er sie gesammelt, mit welcher Ehrfurcht und Verehrung hat er sie in die Hände genommen und aufgeschlagen! Nicht ganz ohne Schuldgefühle, denn in dieser bitteren und erschöpften Zeit ist es für die wenigen, die über ein gutes und geregeltes Einkommen verfügen, allzu leicht, jene zu übervorteilen, denen beides fehlt; und Schadrach, als Leibarzt des Vorsitzenden und seiner engsten Mitarbeiter einer der bestbezahlten und privilegierten Menschen dieser Zeit, hat seine Schätze billig zusammengetragen, brauchte sie nur anzunehmen, wie sie ihm von älteren, weniger glücklichen und vielleicht würdigeren Besitzern angeboten wurden. Dennoch, wären diese Dinge nicht in seine Hände gekommen, so wären sie im allgemeinen Chaos und Niedergang womöglich ganz verlorengegangen.
Mordechais eigentliche ärztliche Tätigkeit findet anderswo statt, in der dem Operationsraum benachbarten Krankenstation jenseits von Sperre fünf. Dieses Arbeitszimmer ist nur ein Ort zum Lesen, Forschen und Nachdenken. Neben seinem Schreibtisch steht ein kleiner Datenanschluß, über den er jederzeit Zugang zur gesamten medizinischen Fachliteratur hat; er braucht bloß ein paar Tasten zu drücken, das Mikrofon einzuschalten und die beobachteten Symptome anzugeben, und schon liefert ihm die Datenbank Auszüge aus den gesammelten wissenschaftlichen Erkenntnissen der Jährhunderte, angefangen bei ägyptischen Papyri, bei Hippokrates und Galenos, bis hin zu den jüngsten Entdekkungen der Mikrobiologen, Immunologen und Endokrinologen. Es ist alles da: Enzephalitis und Endokarditis, Gastritis und Gicht, Nephritis, Nephrose, Neurome, Nystagmus und Bilharziose, Urämie und Xantochromie, alle die tausend natürlichen Plagen, denen das Fleisch unterworfen ist. Es gab eine Zeit, da die Ärzte Schamanen in Federmänteln und Erdfarben waren, die auf Trommeln schlugen, um gefährliche Dämonen zu verscheuchen, und einsam gegen unergründliche Ursachen und unerklärliche Wirkungen ankämpften, die mutig Adern öffneten und Schädel anbohrten, die nach Wurzeln gruben und Kräuter sammelten. Allein auf sich selbst gestellt gegen die dunklen Gespenster der Krankheit, ohne weitere Anleitung als den eigenen Vorrat an überlieferter Kunde von Krankheitsdämonen und ihrer Bekämpfung, Erfahrung und persönliche Intuition. Und jetzt! Hier! Die Antwortmaschine! Ein Druck auf die Taste, und siehe da: Etiologie, Pathologie, Semiotik, Pharmakologie, Prophylaxe, das ganze Spektrum von Diagnose, Behandlung, Heilung und Rekonvaleszenz. Jederzeit auf Abruf zur Verfügung! In seinen Mußestunden mißt er gelegentlich seine geistigen Fähigkeiten am gespeicherten Wissen der Datenbank, indem er sich hypothetische Fragen stellt, Symptome postuliert und Diagnosen versucht; vor elf Jahren hat er die Universität absolviert, aber er lernt noch immer.
Heute ist für solche Spiele keine Zeit. Er schaltet die Sprechanlage ein und wählt die Nummer des Operationsraums.
»Warhaftig?« sagt er.
Nach einem Augenblick flackert der kleine Bildschirm auf und zeigt das breite, gemütliche Gesicht des Chirurgen Nicholas Warhaftig, eines Veteranen von hundert kritischen Organverpflanzungen. Hinter ihm ist ein Ausschnitt des Operationsraums zu sehen, ausgerüstet mit allen Errungenschaften neuzeitlicher medizinischer Technik.
»Der Vorsitzende ist wach«, sagt Schadrach.
»Wir sind bereit«, erwidert Warhaftig. Er ist sechzig Jahre alt, weißhaarig und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Er war bereits die erste Kapazität auf dem Gebiet der Organverpflanzungen, als Schadrach mit dem Universitätsstudium begann, und obgleich Schadrach ihm als Leibarzt des Vorsitzenden zumindest gleichgestellt ist, gibt es für keinen der beiden einen Zweifel daran, welcher von ihnen tatsächlich die größere Autorität ist. Das macht die Beziehung für Schadrach ein wenig schwierig. Warhaftig sagt: »Können Sie ihn um Punkt neun zu mir bringen?«
»Ich werde mich bemühen.«
»Tun Sie das«, antwortet Warhaftig trocken. »Um neun Uhr fünfzehn beginnen wir mit der Durchtränkung. Die Leber ist noch in der Kühlung, aber die Koordinierung ist beim Auftauen immer eine kitzlige Sache. Wie fühlt er sich?«
»Wie gewöhnlich. Die Kraft von zehn Männern.«
»Können Sie mir schnell die Ablesungen der Blutzucker- und Fibrinproduktion geben?«
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