„Wissenschaftsoffizier Varley hat in den Aufzeichnungen nachgesehen. Sie sagt, daß es vor Millionen von Jahren auf der Erde etwas sehr Ähnliches gegeben hat. Die Paläontologen haben ihm einen schönen Namen zugeteilt — Meeresskorpion. Diese alten Ozeane müssen aufregende Gegenden gewesen sein.“
„Genau das, was Kumar gerne jagen würde“, sagte Brant. „Was werden Sie damit anfangen?“
„Genau studieren und dann freilassen.“
„Wie ich sehe, haben Sie es schon etikettiert.“
Brant hat es also bemerkt, dachte Loren. Nicht schlecht.
„Nein — das haben wir nicht. Sehen Sie nur genauer hin!“
Brant machte ein verdutztes Gesicht, als er an der Seite des Beckens niederkniete. Der Riesenskorpion beachtete ihn überhaupt nicht, sondern schnippelte weiter mit seinen bedrohlichen Scheren den Seetang ab.
Eine dieser Scheren war nicht ganz so, wie die Natur sie vorgesehen hatte. Um das Scharnier der rechten Zange war mehrmals eine Drahtschlinge herumgebogen, wie ein primitives Armband.
Brant erkannte den Draht. Die Kinnlade fiel ihm herunter, und einen Augenblick lang fand er keine Worte.
„Ich habe also richtig geraten“, sagte Lorenson. „Jetzt wissen Sie, was mit Ihrer Fischfalle passiert ist. Ich glaube, wir sollten noch einmal mit Dr. Varley sprechen — von Ihren eigenen Wissenschaftlern ganz zu schweigen.“
„Ich bin Astronomin“, hatte Anne Varley in ihrem Büro an Bord der ‚Magellan‘ protestiert. „Was Sie brauchen ist eine Mischung aus Zoologen, Paläontologen, Ethologen — und noch ein paar Disziplinen, von denen ich gar nicht reden will. Aber ich habe getan, was ich konnte, und ein Suchprogramm aufgestellt, Sie finden das Ergebnis in Ihrem Speicher Zwei unter dem Datenblock mit dem Titel ‚Skorp‘. Jetzt brauchen Sie nur das noch durchzusuchen — viel Glück dabei.“
Trotz ihrer Proteste hatte Dr. Varley tüchtig wie immer die fast unendliche Ansammlung von Wissen in den Hauptdatenspeichern des Schiffes gesichtet. Allmählich wurde ein Muster erkennbar; inzwischen graste der Gegenstand dieser ganzen Aufmerksamkeit friedlich in seinem Becken und nahm keinerlei Notiz von dem anhaltenden Strom von Besuchern, die kamen, um ihn genau zu studieren oder auch nur anzustarren.
Trotz seines erschreckenden Aussehens — die Scheren waren fast einen halben Meter lang und sahen so aus, als könnten sie mit einem einzigen Schlag einem Menschen den Kopf abtrennen — schien das Wesen nicht im mindesten aggressiv zu sein. Es machte keinen Fluchtversuch, vielleicht weil es eine so reichliche Nahrungsquelle gefunden hatte. Es wurde sogar allgemein angenommen, daß ein chemisches Spurenelement im Tang dafür verantwortlich sei, weshalb es hierhergelockt worden war.
Wenn es schwimmen konnte, so zeigte es keinerlei Neigung dazu, sondern gab sich damit zufrieden, auf seinen sechs stämmigen Beinen herumzukriechen. Sein vier Meter langer Körper war von einem leuchtend gefärbten, gegliederten Exoskelett umgeben, das ihm eine überraschende Beweglichkeit gestattete.
Weiterhin war der Saum von Palpi oder kleinen Fangarmen bemerkenswert, der den schnabelartigen Mund umgab. Sie hatten eine auffallende — ja, unangenehme Ähnlichkeit mit kurzen, menschlichen Fingern und schienen genauso geschickt zu sein. Obwohl sie offenbar hauptsächlich dazu dienten, mit Nahrung umzugehen, waren sie eindeutig zu viel mehr fähig, und es war faszinierend zu beobachten, wie der Skorp sie zusammen mit seinen Zangen einsetzte.
Seine zwei Augenpaare — das eine groß und offensichtlich für schwaches Licht geeignet, da es während des Tages geschlossengehalten wurde — verliehen ihm wohl ein ausgezeichnetes Sehvermögen. Insgesamt war das Wesen großartig darauf spezialisiert, seine Umgebung mit Sehund Greifwerkzeugen zu erfassen — die wichtigsten Voraussetzungen für Intelligenz.
Aber niemand hätte in einem solch bizarren Geschöpf Intelligenz vermutet, wäre da nicht der zu einem bestimmten Zweck um die rechte Zange gewundene Draht gewesen. Das bewies jedoch noch gar nichts. Wie die Aufzeichnungen zeigten, hatte es auf der Erde Tiere gegeben, die fremde Gegenstände — oft von Menschenhand gemacht — sammelten und auf ungewöhnliche Weise benützten.
Wäre es nicht vollständig dokumentiert gewesen, niemand hätte an den Tick der australischen Webervögel oder der nordamerikanischen Buschschwanzratte geglaubt, die glänzende oder farbige Gegenstände sammelten und sogar künstlerisch anordneten. Die Erde war voll gewesen von solchen Rätseln, die jetzt nie mehr gelöst werden würden. Vielleicht folgte der thalassanische Skorp nur der gleichen, sinnlosen Tradition, und aus ebenso unerklärlichen Gründen.
Es gab mehrere Theorien. Die populärste — weil sie die wenigsten Anforderungen an die Mentalität des Skorps stellte — lautete, das Drahtarmband sei nur ein Schmuck. Es mußte einige Geschicklichkeit erfordert haben, es zu befestigen, und es wurde viel darüber diskutiert, ob das Wesen dies ohne Hilfe hatte bewerkstelligen können.
Diese Hilfe hätte natürlich auch von menschlicher Seite kommen können. Vielleicht war der Skorp das entflohene Haustier eines exzentrischen Wissenschaftlers, aber das schien sehr unwahrscheinlich. Da auf Thalassa jeder jeden kannte, hätte man so ein Geheimnis nicht lange bewahren können.
Es gab noch eine andere Theorie, die am weitesten hergeholte von allen — und doch die gedanklich provozierendste.
Vielleicht war das Armband ein Rangabzeichen.
26. Der Aufstieg der Schneeflocke
Es war eine hochspezialisierte Tätigkeit mit ausgedehnten, langweiligen Pausen, die Leutnant Owen Fletcher viel Zeit zum Nachdenken ließen. Viel zu viel Zeit eigentlich.
Er war Angler und holte mit einer Leine von fast unvorstellbarer Festigkeit einen Sechshunderttonnenfang ein. Einmal am Tag senkte sich die selbststeuernde Fesselsonde auf Thalassa hinunter und zog das Kabel in einer komplizierten, dreißigtausend Kilometer langen Kurve hinter sich her. Sie steuerte automatisch die wartende Nutzlast an, und wenn alle Überprüfungen abgeschlossen waren, konnte das Hochhieven beginnen.
Die kritischen Augenblicke waren der Start, wenn die Schneeflocke aus der Gefrieranlage gerissen wurde, und die letzte Annäherung an die ‚Magellan‘, wenn das riesige Eis-Sechseck nur einen Kilometer vom Schiff entfernt abgesetzt werden mußte. Der Hebevorgang begann um Mitternacht und dauerte von Tarna bis zu dem stationären Orbit, in dem die ‚Magellan‘ schwebte, knapp sechs Stunden.
Wenn die ‚Magellan‘ sich während des Rendezvous und der Montage im Tageslicht befand, war das Allerwichtigste, die Schneeflocke im Schatten zu halten, damit die heißen Strahlen von Thalassas Sonne die kostbare Ladung nicht in den Raum verdampften. Sobald sie sicher hinter dem großen Strahlungsschild war, konnten die Zangen der ferngesteuerten Bedienungsroboter die Isolierfolie wegreißen, die das Eis während seines Aufstiegs in die Umlaufbahn geschützt hatte.
Als nächstes mußte das Hebegerüst entfernt und für die nächste Ladung nach unten geschickt werden. Manchmal klebte die riesige, wie ein von einem exzentrischen Koch entworfener, sechseckiger Topfdeckel geformte Metallplatte am Eis, und man mußte sie sorgfältig dosiert ein wenig erwärmen, um sie zu lösen.
Schließlich schwebte die geometrisch vollkommene Eisscholle bewegungslos hundert Meter von der ‚Magellan‘ entfernt, und nun begann der wirklich heikle Teil. Die Kombination von sechshundert Tonnen Masse und Gewichtslosigkeit überstieg völlig jede instinktive, menschliche Reaktion; nur Computer konnten bestimmen, welcher Schub in welche Richtung und in welchem Augenblick notwendig war, um den künstlichen Eisberg an der richtigen Stelle einzufügen. Aber es bestand immer die Möglichkeit eines Notfalls oder unerwarteter Probleme, die über die Fähigkeiten selbst des intelligentesten Roboters hinausgingen; obwohl Fletcher bisher noch nicht hatte eingreifen müssen, würde er bereit sein, wenn es dazu kam.
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