Der Musik — abgesehen von der Oper — war es besser ergangen, ebenso den bildenden Künsten. Trotzdem war allein schon der Umfang des Materials so überwältigend, daß eine Auswahl unumgänglich, wenn auch manchmal willkürlich gewesen war. Künftige Generationen auf vielen Welten würden sich über die ersten achtunddreißig Symphonien von Mozart, Beethovens Zweite und Vierte und Sibelius' Dritte bis Sechste wundern.
Moses Kaldor war sich seiner Verantwortung zutiefst bewußt, und auch seiner Unzulänglichkeit — oder der Unzulänglichkeit jedes Menschen, ganz gleich, wie begabt er sein mochte —, die Aufgabe zu bewältigen, vor die er sich gestellt sah. Da oben, an Bord der ‚Magellan‘, sicher gespeichert in ihren gigantischen Datenbanken, war vieles, was die Menschen von Thalassa niemals kennengelernt hatten, und sicher auch vieles, was sie gierig annehmen und genießen würden, selbst wenn sie es nicht ganz verstanden. Die großartige Nachschöpfung der ‚Odyssee‘ aus dem fünfundzwanzigsten Jahrhundert, die Kriegsklassiker, die voll Schmerz über ein halbes Jahrtausend Frieden zurückblickten, die großen Shakespeare-Tragödien in Feinbergs wundervoller Lingua-Übersetzung, Lee Chows ‚Krieg und Frieden‘ — es würde Stunden und Tage dauern, auch nur alle Möglichkeiten aufzuzählen.
Manchmal, wenn er in der Bibliothek im Komplex des Ersten Landeplatzes saß, war Kaldor versucht, für diese einigermaßen glücklichen und bei weitem nicht unschuldigen Menschen Gott zu spielen. Dann verglich er die Auflistungen aus den Datenbanken hier mit denen an Bord des Schiffes und stellte fest, was ausgesondert oder zusammengefaßt worden war. Obwohl er im Prinzip jede Art von Zensur ablehnte, mußte er oft zugestehen, daß die Streichungen klug waren — wenigstens in den Tagen, als die Kolonie gegründet wurde. Aber jetzt, nachdem sie sich erfolgreich etabliert hatte, wäre ein wenig Unruhe, ein kleiner Schuß Kreativität, vielleicht gar nicht schlecht…
Gelegentlich wurde er selbst gestört, entweder durch Anrufe vom Schiff oder durch Gruppen junger Lassaner, die Führungen zurück zum Anfang ihrer Geschichte erhielten. Er hatte nichts gegen diese Unterbrechungen, und eine davon hieß er stets vorbehaltlos willkommen.
An den meisten Nachmittagen, außer wenn das, was man auf Tarna für dringende Angelegenheiten hielt, sie daran hinderte, kam Mirissa auf Bobby, ihrem schönen Palomino-Wallach den Hügel heraufgeritten. Die Besucher waren sehr überrascht gewesen, als sie auf Thalassa Pferde vorfanden, da sie auf der Erde niemals lebendige gesehen hatten. Aber die Lassaner liebten Tiere und hatten aus den riesigen Karteien mit genetischem Material, die sie geerbt hatten, viele neugezüchtet. Manchmal waren sie ganz nutzlos — oder sogar lästig,
wie die reizenden Totenkopfäffchen, die ständig kleine Gegenstände aus den Haushalten von Tarna stahlen.
Mirissa brachte immer etwas zum Naschen mit — gewöhnlich Obst oder eine der vielen, heimischen Käsesorten — und Kaldor nahm es dankbar an. Aber noch dankbarer war er für ihre Gesellschaft; wer hätte gedacht, daß er, der oft zu fünf Millionen Menschen gesprochen hatte — mehr als der Hälfte der letzten Generation — jetzt mit einem einzigen Zuhörer zufrieden war…
„Weil Sie aus einer langen Reihe von Bibliothekaren abstammen“, sagte Moses Kaldor, „denken Sie nur in Megabytes. Aber darf ich Sie daran erinnern, daß der Name ‚Bibliothek‘ von einem Wort kommt, das ‚Buch‘ bedeutet. Haben Sie auf Thalassa Bücher?“
„Aber natürlich“, sagte Mirissa gekränkt; sie hatte noch nicht gelernt, zu erkennen, wann Kaldor nur scherzte. „Millionen… nun ja, Tausende. Auf der Nordinsel gibt es einen Mann, der pro Jahr ungefähr zehn druckt, in Auflagen von ein paar hundert. Sie sind schön — und sehr teuer. Alle werden zu besonderen Gelegenheiten verschenkt. Ich bekam eines zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag — ‚Alice im Wunderland‘.“
„Das würde ich irgendwann gerne einmal sehen. Ich habe Bücher immer geliebt und habe auf dem Schiff oben fast hundert Stück davon. Vielleicht dividiere ich deshalb, so oft ich jemanden in Bytes reden höre, im Geiste durch eine Million und denke an ein Buch… ein Gigabyte entspricht tausend Büchern und so weiter. Nur auf diese Weise kann ich erfassen, worum es wirklich geht, wenn die Leute über Datenbanken und Informationstransfer sprechen. Nun, wie groß ist Ihre Bibliothek hier?“
Ohne den Blick von Kaldor zu wenden, ließ Mirissa ihre Finger über die Tastatur ihres Kontrollpultes wandern.
„Das ist auch so etwas, was ich nie konnte“, sagte er bewundernd. „Jemand hat einmal gesagt, nach dem einundzwanzigsten Jahrhundert habe sich die Menschheit in zwei Spezies aufgespalten — in die Verbalen und die Digitalen. Natürlich kann ich mit einer Tastatur umgehen, wenn ich muß — aber ich spreche lieber mit meinen elektronischen Kollegen.“
„Nach der letzten, stündlichen Bestandsaufnahme“, sagte Mirissa, „sind es sechshundertfünfundvierzig Terabyte.“
„Hm — fast eine Milliarde Bücher. Und wie groß war die Bibliothek ursprünglich?“
„Das kann ich Ihnen sagen, ohne nachzusehen. Sechshundertvierzig.“
„Also wurden in siebenhundert Jahren…“
„Ja, ja — wir haben nur ein paar Millionen Bücher zustandegebracht.“
„Ich will nicht kritisieren; schließlich ist Qualität wichtiger als Quantität. Ich möchte gerne, daß Sie mir die Werke zeigen, die Sie für die besten der lassanischen Literatur halten — und auch Werke der Musik. Das Problem, das wir lösen müssen, ist, was wir Ihnen geben sollen. Die ‚Magellan‘ hat mehr als tausend Megabücher an Bord, im allgemein zugänglichen Speicher. Sind Sie sich klar, was das bedeutet?“
„Wenn ich ja sagte, würde ich Sie daran hindern, es mir zu sagen. So grausam bin ich nicht.“
„Danke, meine Liebe. Im Ernst, es ist ein entsetzliches Problem, das mich seit Jahren verfolgt. Manchmal glaube ich, daß die Erde keinen Augenblick zu früh zerstört wurde; die Menschheit wurde von den Informationen erdrückt, die sie ständig erzeugte.
Am Ende des zweiten Jahrtausends produzierte sie nur — nur! — den Gegenwert von einer Million Bücher pro Jahr. Und ich beziehe mich dabei nur auf Informationen, die, wie man annahm, bleibenden Wert besaßen, und die man deshalb unbegrenzt speicherte.
Bis zum dritten Jahrtausend hatte sich diese Zahl mit wenigstens Hundert multipliziert. Seit der Zeit, als die Schrift erfunden wurde, bis zum Ende der Erde wurden schätzungsweise zehntausend Millionen Bücher produziert. Und, wie ich Ihnen sagte, etwa zehn Prozent davon haben wir an Bord. Würden wir das alles bei Ihnen abladen, selbst einmal angenommen, Sie hätten die Speicherkapazität dafür, so würden Sie darin ertrinken. Wir würden Ihnen keinen Gefallen tun — Ihr kulturelles und wissenschaftliches Wachstum würde nur behindert. Und das meiste Material würde für Sie überhaupt nichts bedeuten. Sie würden Jahrhunderte brauchen, um den Weizen von der Spreu zu trennen.“
Seltsam, sagte sich Kaldor, daß mir diese Analogie nicht früher eingefallen ist. Das ist genau die Gefahr, die die Gegner von SETI ständig beschworen. Nun, wir sind nie mit extraterrestrischer Intelligenz in Verbindung getreten, haben sie nicht einmal entdeckt. Aber die Lassaner haben eben genau dies getan — und die Extraterrestrier sind wir.
Aber trotz ihrer völlig verschiedenen Herkunft hatten er und Mirissa so viel gemeinsam. Ihre Neugier und Intelligenz waren Wesenszüge, die es zu fördern galt; nicht einmal unter seinen Besatzungskollegen gab es jemanden, mit dem er sich so anregend unterhalten konnte. Manchmal trieb sie Kaldor mit ihren Fragen so in die Enge, daß ihm als Verteidigung nur noch der Gegenangriff blieb.
„Es erstaunt mich“, sagte er nach einem besonders gründlichen Kreuzverhör über solare Politik zu ihr,
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