„Vor ein paar Jahren haben sie auf einer Versuchsfarm eine ganze Rinderherde freigelassen.“
„Du meinst, sie haben es versucht — die Kühe sind schnurstracks wieder nach Hause gegangen. Alle haben so darüber gelacht, daß jegliche weiteren Demonstrationen abgeblasen wurden. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß sie sich so viel Mühe machen würden.“ Sie zeigte auf das zerrissene Netz.
„So schwierig wäre das gar nicht — ein kleines Boot bei Nacht, ein paar Taucher — das Wasser ist nur zwanzig Meter tief.“
„Tja, ich werde Erkundigungen einziehen. Inzwischen möchte ich, daß du zwei Dinge tust.“
„Was?“ fragte Brant, bemüht, nicht argwöhnisch zu klingen, aber ohne jeden Erfolg.
„Du sollst das Netz reparieren — im Techniklager bekommst du alles, was du brauchst. Und du, sollst keine Anschuldigungen mehr vorbringen, solange du nicht hundertprozentig sicher bist. Wenn du dich irrst, stehst du dumm da und mußt dich vielleicht noch entschuldigen. Wenn du recht hast, verscheuchst du am Ende die Täter, ehe wir sie fangen können. Verstanden?“
Brant fiel die Kinnlade ein wenig herunter. So scharfsinnig hatte er die Bürgermeisterin noch nicht erlebt. Er sammelte Beweisstück A ein und verabschiedete sich einigermaßen ernüchtert.
Vielleicht wäre er noch mehr ernüchtert — oder auch nur belustigt — gewesen, wenn er gewußt hätte, daß die Bürgermeisterin nicht mehr ganz so verliebt in ihn war.
Loren Lorenson, der stellvertretende Chefingenieur, hatte an diesem Vormittag auf mehr als einen Bürger von Tarna Eindruck gemacht.
Ein Name, der so an die Erde gemahnte, war für die neue Siedlung nicht sehr glücklich gewählt, und niemand wollte die Verantwortung dafür übernehmen. Aber er war etwas glanzvoller als ‚Basislager‘ und wurde schnell angenommen. Der Komplex von Fertighäusern war mit erstaunlicher Schnelligkeit in die Höhe geschossen — buchstäblich über Nacht. Tarna erlebte hier zum erstenmal Erdenbewohner — oder vielmehr Erdenroboter — in Aktion, und die Dorfbewohner waren tief beeindruckt. Selbst Brant, der immer gefunden hatte, Roboter machten mehr Schwierigkeiten, als sie wert seien, außer bei riskanten oder monotonen Arbeiten, bekam erste Zweifel. Es gab da eine elegante, bewegliche Allzweckbaumaschine, die so verblüffend schnell arbeitete, daß man ihren Bewegungen oft gar nicht folgen konnte. Wo immer sie hinging, folgte ihr eine bewundernde Menge kleiner Lassaner. Wenn sie ihr in den Weg kamen, unterbrach sie, was immer sie gerade tat, bis die Bahn wieder frei war. Brant entschied, daß er genau so einen Assistenten brauchte; vielleicht konnte er die Besucher irgendwie dazu bringen…
Nach etwa einer Woche war Terra Nova ein voll funktionsfähiger Mikrokosmos des großen Schiffs, das außerhalb der Atmosphäre kreiste. Es gab einfache, aber bequeme Unterkünfte für hundert Besatzungsmitglieder, mit allen lebenserhaltenden Systemen, die sie brauchten — außerdem einer Bibliothek, Sporthalle, Schwimmbad und Theater. Die Lassaner billigten alle diese Einrichtungen und beeilten sich, ausgiebigen Gebrauch davon zu machen. Infolgedessen betrug die Bevölkerung von Terra Nova gewöhnlich wenigstens das Doppelte der nominalen Hundert.
Die meisten Gäste — ob eingeladen oder nicht — waren bestrebt, sich nützlich zu machen, und entschlossen, ihren Besuchern einen so angenehmen Aufenthalt wie nur möglich zu bereiten. Diese Freundlichkeit war, wenn auch sehr willkommen und hoch geschätzt, doch oft peinlich. Die Lassaner waren von unersättlicher Neugier, und der Begriff Privatsphäre war ihnen fast unbekannt. Ein ‚Bitte nicht Stören‘-Zeichen wurde oft als persönliche Herausforderung betrachtet, was zu interessanten Komplikationen führte.
„Sie alle sind höhere Offiziere und hochintelligente Erwachsene“, hatte Kapitän Bey bei der letzten Personalbesprechung an Bord des Schiffes gesagt. „Deshalb sollte es eigentlich gar nicht notwendig sein, Ihnen das zu sagen. Versuchen Sie, sich nicht in irgendwelche Techtelmechtel verwickeln zu lassen, bis wir genau wissen, wie die Lassaner über so etwas denken. Sie sind allem Anschein nach sehr unkompliziert, aber das kann auch täuschen. Sind Sie nicht auch dieser Ansicht, Dr. Kaldor?“
„Ich kann nach einer so kurzen Beobachtungszeit nicht behaupten, eine Autorität für lassanische Sitten zu sein, Kapitän. Aber es gibt ein paar interessante, historische Parallelen zu der Zeit, als die alten Segelschiffe auf der Erde nach langen Seereisen in den Hafen einliefen — ich nehme an, viele von Ihnen haben ‚Meuterei auf der Bounty‘, dieses klassische, antike Video gesehen.“
„Ich hoffe doch, Dr. Kaldor, daß Sie mich nicht mit Kapitän Cook — ich meine, Bligh — vergleichen wollen.“
„Das wäre keine Beleidigung. Der wirkliche Bligh war ein brillanter Seemann und wurde auf höchst unfaire Weise verleumdet. In diesem Stadium brauchen wir nicht mehr als gesunden Menschenverstand, gute Manieren und — wie Sie schon andeuteten — Vorsicht walten zu lassen.“
Hatte Kaldor in seine Richtung geblickt, fragte sich Loren, als er diese Bemerkung machte? Es war doch bestimmt noch nicht so offensichtlich…
Schließlich führten ihn seine dienstlichen Pflichten ein dutzendmal am Tag mit Brant Falconer zusammen. Es war unmöglich, einer Begegnung mit Mirissa auszuweichen — selbst wenn er das gewollt hätte. Sie waren bisher nie miteinander allein gewesen und hatten nur ein paar höfliche Worte gewechselt. Aber schon jetzt war es gar nicht nötig, mehr zu sagen.
„Man nennt es ein Baby“, sagte Mirissa, „und allem Anschein zum Trotz wird es eines Tages zu einem völlig normalen, menschlichen Wesen heranwachsen.“
Sie lächelte, aber ihre Augen waren feucht. Bis sie merkte, wie fasziniert Loren war, war es ihr noch nie in den Sinn gekommen, daß es in dem kleinen Dorf Tarna wahrscheinlich mehr Kinder gab als während der letzten Jahrzehnte mit einer Geburtenrate von praktisch Null auf dem ganzen Planeten Erde. „Ist es… Ihres?“ fragte er ruhig. „Nun, zuallererst einmal ist es kein Es; es ist ein Er. Brants Neffe, Lester — wir kümmern uns um ihn, solange seine Eltern auf der Nordinsel sind.“
„Er ist wunderschön. Darf ich ihn halten?“ Wie ein Stichwort begann Lester zu schreien. „Das wäre keine gute Idee.“ Mirissa lachte, nahm ihn hastig auf und steuerte auf das nächste Badezimmer zu. „Ich kenne die Anzeichen. Lassen Sie sich von Brant oder Kumar herumführen, bis die anderen Gäste kommen.“
Die Lassaner liebten Parties und ließen keine Gelegenheit vorübergehen, welche zu veranstalten. Die Ankunft der ‚Magellan‘ war eine Chance, wie man sie im wahrsten Sinne des Wortes nur einmal im Leben — ja, in vielen Leben — bekam. Wenn die Besucher so unvorsichtig gewesen wären, alle Einladungen anzunehmen, die sie erhielten, so hätten sie jeden wachen Augenblick damit verbracht, von einem offiziellen oder inoffiziellen Empfang zum nächsten zu stolpern. Keinen Augenblick zu früh hatte der Kapitän eine seiner seltenen, aber scharfen Anweisungen herausgegeben — ‚Bey-Blitzschläge‘ — oder einfach ‚Bey-Schläge‘, wie sie ironisch genannt wurden — und seinen Offizieren maximal eine Party in fünf Tagen gestattet. Es gab einige, die der Ansicht waren, in Anbetracht der Zeit, die man oft brauchte, um sich von der lassanischen Gastfreundschaft zu erholen, sei dies viel zu großzügig bemessen.
Das Wohnhaus der Leonidas, das im Augenblick von Mirissa, Kumar und Brant bewohnt wurde, war ein großes, ringförmiges Gebäude, das die Familie seit sechs Generationen beherbergte. Ein Stockwerk hoch — in Tarna gab es nicht viele Obergeschosse — umschloß es einen grasbewachsenen Innenhof mit ungefähr dreißig Metern Durchmesser. Direkt im Zentrum lag ein kleiner Teich samt winziger Insel, die über eine pittoreske Holzbrücke zugänglich war. Und auf der Insel stand eine einzelne Palme, die nicht im besten Zustand zu sein schien.
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