»Die Zeit vergeht«, knurrte Mavra.»Los!«
Sie zählte bis dreißig, nachdem Renard im Terminal verschwunden war, dann ging sie darauf zu, Nikki hinter sich, zog die Pistole und zerschoß den Kontrollkasten am Waffendetektor.
»Jetzt, Nikki! Zur Tür!«
Nikki rührte sich nicht.
»Nein!«sagte sie störrisch.»Nicht ohne meinen Vater!«
Mavra seufzte, drehte sich um und betäubte Nikki mit dem Nagel ihres rechten Zeigefingers.
»He! Wa—«, stieß das Mädchen hervor, dann erstarrte sie und entspannte sich wieder, ohne noch denken zu können.
»Du läufst hinter mir her, so schnell du kannst«, sagte Mavra zu Nikki.»Nicht stehenbleiben, bis ich es sage!«Und damit hetzte sie zum Eingang. Nikki folgte ihr, so gut sie konnte.
»Du wiegst zehn Kilo!«schrie Mavra sie an.»Los jetzt!«
Nikki wurde schneller, und sie lief weitaus behender durch die Tür, als man von ihr hätte erwarten können.
Mavra ließ sich nur eine Sekunde Zeit, einen Blick auf die bewußtlos am Boden liegende Aufseherin zu werfen, dann wandte sie sich Nikki zu.
»Ins Schiff!«befahl sie und drehte sich besorgt um.»Renard!«
Aus dem abseits stehenden Schiff drangen zwei heulende Geräusche, und einen Augenblick später sah sie Renard einen Neuen Harmonisten herauszerren.
»Los, Nikki!«sagte sie, und das Mädchen folgte ihr wie ein dressierter Hund.
Renard schleppte schweratmend die zweite Gestalt heraus und winkte ihnen.
Es war Treligs Privatkreuzer, komplett mit Schlafzimmer, Salon und sogar einer Bar ausgestattet. Renard schnallte Nikki in einem der Sessel des Salons an, während Mavra nach vorne ging. Ein kurzer Strahl aus der Pistole zerstörte das kleine Schloß, und Mavra öffnete die Tür zum Cockpit.
Renard hastete ihr nach und schnallte sich im Copiloten-Sessel an. Mavra war binnen Sekunden an der Arbeit, betätigte Schalter, tastete Anweisungen in den Computer ein und bereitete einen Notstart vor.
»Festhalten!«schrie sie Renard zu, als das Schiff vibrierte.»Es wird rauh!«
Sie drückte auf die Taste ›NS‹, das Raumschiff löste sich und fegte hinauf.
»Bitte den Code«, sagte eine mechanische Stimme freundlich aus dem Lautsprecher.»Den korrekten Code binnen sechzig Sekunden, oder wir zerstören das Schiff.«
Mavra riß verzweifelt den Kopfhörer an sich, versuchte ihn aufzusetzen, aber er war so groß, daß er nicht hielt. Sie schaltete das Mikrophon ein und hielt es an den Mund.
»Code kommt«, sagte sie hinein und verstummte. Los! Los! dachte sie drängend. Nikki ist an Bord, und wir sind unterwegs! Gib mir den verdammten Code!
»Geben Sie um Himmels willen den Code durch!«schrie Renard.
»Dreißig Sekunden«, sagte die Robotwache höflich.
Plötzlich hatte sie ihn. Die Wörter schossen in ihr Gehirn, ganz plötzlich, so sonderbar, daß sie für Augenblicke an der Richtigkeit zweifelte. Sie atmete tief ein.
»Edward Gibbon, Band eins«, sagte sie.
Keine Antwort. Sie hielten gemeinsam den Atem an. Die Sekunden tickten vorbei. Fünf… vier… drei… zwei… eins… null…
Nichts geschah. Renard pfiff durch die Zähne und sank in sich zusammen. Mavra begann zu zittern und konnte eine halbe Minute damit nicht aufhören. Sie fühlte sich völlig ausgelaugt.
Sie saßen stumm da, während sie mit vollem Schub weiterflogen. Endlich drehte Mavra sich dem fremden Mann zu, der wie eine Frau aussah, und fragte ihn fast im Flüsterton:»Renard, wie spät ist es?«
Renard zog die Brauen zusammen und drehte sein Halfter um.
»Zwölf Uhr zehn«, erwiderte er.
Mavra fühlte sich besser. Sie hatten eine große Chance, es rechtzeitig zu schaffen. Wenn Treligs Raumschiff dazu nicht imstande war, gab es überhaupt keine andere Möglichkeit.
Dann kam plötzlich Dunkelheit. Mavras Augen konnten sich ihr nicht mehr anpassen, ebensowenig hatte sie das Gefühl, von einem Schiff umgeben zu sein. Sie befanden sich in einem tiefen schwarzen Loch und stürzten immer schneller hinein.
Renard schrie auf, ebenso Nikki, in klagendem Ton irgendwo hinter ihnen.
»Verdammter Mist!«sagte Mavra angewidert.»Sie haben den verdammten Test vorgezogen!«
Die Unterseite von Neu-Pompeii
Trelig war ungeduldig geworden. Der Asteroid war von den Robotschleppern frühzeitig in Position gebracht worden; Yulin war bereit, das übrige Personal überwachte alle notwendigen Instrumente. Trelig sah keinen Grund, bis dreizehn Uhr zu warten. Er befahl, mit dem Versuch zu beginnen, und Yulin gab die Anweisung an Obie weiter.
Der Computer selbst war beunruhigt. Er konnte Yulins direkten Befehl nicht mißachten, obwohl er versucht hatte, ihn durch kleine Defekte hinauszuzögern. Obie hatte selbst Grenzen, und wenn Yulin den Code durchgab, mußte Obie gehorchen, in der Hoffnung, daß Mavra frühzeitig entkommen war.
Die völlige Schwärze und das Fallgefühl kamen für Zinder unerwartet. Selbst Obie spürte sie; der Computer wußte, daß sie nirgends hinstürzten, und kam zu dem Schluß, daß die erste fünfzigprozentige Möglichkeit eingetreten war. Es gab nicht genug Energie, um Neu-Pompeii in einer stabilen Beziehung zum Rest des Universums zu halten; der Zug hatte sich ausgewirkt, zu stark, und der Planetoid hatte ihm nachgegeben.
Unbeeinflußt von den schrecklichen Sinneswahrnehmungen der anderen sondierte Obie den Zustand. Draußen war nichts. Überhaupt nichts.
Neu-Pompeii war noch intakt; das vermochte Obie festzustellen. Aber er hatte bei der Zuschaltung der großen Schüssel sofort auf Reserveenergie umgeschaltet und konnte nirgends Materie entdecken, nicht das winzigste Staubpartikel außerhalb des Strahles, der knapp unter ein Lichtjahr weit reichte. Sie befanden sich ganz allein in einem eigenen Kosmos.
Und doch war da etwas, das nur Obie fühlen konnte. Die Zugkraft und das gigantische Kraftfeld, die Stabilitätsgleichung für ihre physische Existenz, hörten schlagartig auf, als sei ein gespanntes Gummiband von einer Verankerung gerutscht. Das war die Zugkraft, begriff Obie. Alle Materie und alle Energie im Kosmos hatten irgendwo ihre Verbindung zum Zentralcomputer; wenn diese Verbindung gestört oder unterbrochen wurde, löste die betroffene Wirklichkeit sich in ihr primäres Energiemuster auf. Deshalb konnten sie keine Wirklichkeit fühlen, konnten den Planetoiden nicht berühren, obwohl Obies Instrumente zeigten, daß er da war. Er war nicht da. Sie waren alle, Obie eingeschlossen, ein abstraktes mathematisches Konzept, das zu seinem Schöpfer zurückkehrte.
Dann trat plötzlich wieder Stabilität ein. Die Energie kehrte zurück, und Obie konnte wahrnehmen, wie Sonnenenergie das Plasma bestrahlte, das wie durch ein Wunder gehalten zu haben schien.
Alle Menschen lagen im Kontrollraum und auf dem Laufgang herum, betäubt, schockiert oder bewußtlos.
Dann stöhnte plötzlich eine Gestalt und setzte sich auf, bewegte den Kopf, wie um schmerzhafte Muskeln zu bewegen. Schwer atmend, halb gehend, halb kriechend erreichte der Mann den Kontrollraum, ohne das Stöhnen der anderen zu beachten.
Yulin war aus seinem Sessel an eine Schalttafel geschleudert worden und hatte das Bewußtsein verloren. Aus einer Wunde an der Stirn rann Blut.
Die Gestalt achtete nicht darauf. Sie drückte auf eine Taste.
»Obie! Alles in Ordnung mit dir?«rief sie.
»Ja, Dr. Zinder«, erwiderte der Computer.»Das heißt, es steht viel besser, als Sie oder ich erwartet haben.«
»Wie sieht es aus, Obie? Was ist geschehen?«
»Ich habe alle Daten analysiert und korreliert, so gut ich konnte, Sir. Wir sind, wie erwartet, aus der Wirklichkeit entfernt und an einem anderen Ort wieder zusammengefügt worden. Wir scheinen uns in einer stabilen Umlaufbahn ungefähr vierzigtausend Kilometer über dem Äquator eines sehr seltsamen Planeten zu befinden.«
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