Als ich aus dem Schlaf erwachte, sah ich, daß er mich anstarrte.
»Estraven?«fragte er mit schwacher, verwunderter Stimme.
Mir schwoll das Herz. Jetzt konnte ich ihn beruhigen und ihn versorgen. In dieser Nacht schliefen wir beide gut.
Am nächsten Tag ging es ihm sehr viel besser, so daß er sich zum Essen sogar aufsetzen konnte. Die Wunden an seinem Körper heilten. Ich fragte ihn, woher sie kämen.
»Das weiß ich nicht. Ich glaube, sie sind eine Folge der Drogen. Man hat mir immer wieder Injektionen gegeben…«
»Gegen Kemmer?«Das hatte ich von Männern gehört, die von einer Freiwilligen-Farm entlassen oder geflohen waren.
»Ja. Aber auch andere. Keine Ahnung, was das für Spritzen waren, vermutlich irgendwelche Wahrheitsdrogen. Die haben mich krank gemacht, aber man hat sie mir immer weiter gegeben. Was wollten die eigentlich herausfinden? Was hätte ich ihnen sagen können?«
»Vermutlich hat man eher versucht, Sie zu domestizieren, als Sie zu verhören.«
»Zu domestizieren?«
»Sie durch erzwungene Sucht nach einem der Orgrevy- Derivate gefügig zu machen. Diese Praktiken sind auch in Karhide nicht unbekannt. Vielleicht hat man Sie und die anderen aber auch zu Experimenten benutzt. Ich habe gehört, daß man an den Gefangenen auf den Farmen Drogen und Methoden ausprobiert, die das Gehirn verändern sollen. Bisher habe ich es nie geglaubt, wenn man mir so etwas erzählte. Jetzt glaube ich es.«
»Gibt es in Karhide auch solche Farmen?«
»In Karhide? Nein«, antwortete ich.
Er rieb sich nervös die Stirn.»In Mishnory würde man mir auf diese Frage vermutlich auch antworten, daß es in Orgoreyn so etwas nicht gibt.«
»Im Gegenteil — man würde sich damit vor Ihnen brüsten und Ihnen Tonbänder und Fotos von Freiwilligenfarmen vorführen wo Anomale resozialisiert werden und Restgruppen von Eingeborenenstämmen Zuflucht finden. Man würde Ihnen die Erste Distrikt-Freiwilligen-Farm gleich außerhalb von Mishnory zeigen — in jeder Hinsicht ein Ausstellungsstück. Wenn Sie vermuten, daß wir in Karhide Farmen haben, dann überschätzen Sie uns aber sehr, Mr. Ai. Wir sind kein fortschrittliches Land.«
Er blieb lange ganz still liegen und starrte auf den glühenden Chabe-Ofen, den ich so eingestellt hatte, daß er eine erstickende Hitze ausstrahlte. Dann sah er mich wieder an.
»Ich weiß, daß Sie es mir schon heute morgen gesagt haben, aber da war ich, glaube ich, noch etwas benommen. Wo sind wir, und wie sind wir hierhergekommen?«
Ich sagte es ihm zum zweitenmal.
»Sie sind also… einfach mit mir auf- und davongegangen?«
»Mr. Ai, Sie und jeder andere Gefangene, oder auch alle Gefangenen zusammen, hätten jederzeit einfach auf- und davongehen können. Wenn Sie nicht ausgehungert, erschöpft, demoralisiert und durch die Drogen abgestumpft gewesen wären; und wenn Sie Winterkleidung gehabt hätten — und eine Zufluchtsstätte… Da liegt der Haken. Wo hätten Sie hingehen sollen? In eine Stadt? Sie haben keine Papiere, also aussichtslos. In die Wildnis? Kein Unterschlupf, also Ihr Ende. Im Sommer wird man die Pulefen-Farm vermutlich mit mehr Wachen besetzen. Im Winter dagegen überläßt man dem Winter selbst die Bewachung.«
Er hörte kaum zu.»Sie könnten mich doch nicht einmal zehn Meter weit tragen, Estraven. Wie konnten Sie mich da auf dem Buckel im Dunkeln mehrere Meilen weit im Laufschritt querfeldein schleppen…«
»Ich war im Dothe-Zustand.«
Er zögerte.»Freiwillig?«
»Ja.«
»Sie… Sie gehören zu den Handdarata?«
»Ich bin in der Handdara aufgewachsen und war zwei Jahre lang Einwohner der Festung Rotherer. Im Kerm-Land gehören die meisten Mitglieder der Inneren Herde zu den Handdarata.«
»Ich dachte immer, daß eine Dothe-Phase, daß dieser extreme Energieverbrauch notwendigerweise eine Art Kollaps nach sich zieht…«
»Das stimmt. Wir nennen es thangen, den dunklen Schlaf. Diese Phase dauert länger als die Dothe-Periode, und wenn man in die Erholungsphase eingetreten ist, wäre es überaus gefährlich, sich dagegen zu wehren. Ich habe zwei ganze Nächte durchgeschlafen. Auch jetzt bin ich noch im Thangen- Zustand und könnte keinen Hügel hinaufklettern. Dazu kommt ein starkes Hungergefühl; ich habe den größten Teil der Rationen gegessen, die mich über die ganze nächste Woche bringen sollten.«
»Nun gut«, sagte er widerwillig.»Ich glaube Ihnen. Was bleibt mir anderes übrig, als Ihnen zu glauben? Hier bin ich, da sind Sie… aber ich begreife es nicht. Ich begreife nicht, warum Sie das alles für mich getan haben!«
Da ging mein Temperament mit mir durch, und ich mußte intensiv auf das Eismesser blicken, das dicht neben meiner Hand lag. Es war mir nicht möglich, ihn anzusehen oder ihm zu antworten, bevor ich meiner Wut Herr geworden war. Zum Glück war noch immer nicht viel Energie in mich zurückgekehrt, und ich sagte mir stumm, daß er ein Unwissender sei, ein Fremder, den man mißbraucht und verschreckt hatte. Auf diese Weise zu einer gerechteren Beurteilung seiner Worte gekommen, sagte ich schließlich:»Weil ich das Gefühl habe, daß es zum Teil meine Schuld ist, daß Sie nach Orgoreyn und dadurch auf die Pulefen-Farm gekommen sind. Und jetzt versuche ich, meinen Fehler gutzumachen.«
»Aber Sie hatten doch mit meiner Refse nach Orgoreyn überhaupt nichts zu tun!«
»Mr. Ai, wir sehen dieselben Ereignisse mit verschiedenen Augen, während ich irrtümlich angenommen hatte, daß wir sie auf die gleiche Art sähen. Kehren wir zum vergangenen Frühjahr zurück. Damals, ungefähr einen Halbmonat vor dem Tag der Schlußstein-Zeremonie, begann ich König Argaven zu empfehlen, er möge warten, er möge über Sie und Ihre Mission vorläufig noch nicht entscheiden. Die Audienz war allerdings schon festgelegt, daher schien es mir am besten, sie stattfinden zu lassen, ohne jedoch ein Resultat davon zu erwarten. Ich dachte immer, daß Sie diese Gedankengänge verstehen würden, doch leider hatte ich mich darin getäuscht. Ich setzte eben zuviel voraus; ich wollte Sie nicht beleidigen, indem ich Ihnen einen Rat gab; ich dachte, Sie würden begreifen, welche Gefahr darin lag, daß Pemmer Harge rem ir Tibe auf einmal in die Kyorremy aufstieg. Wenn Tibe einen plausiblen Grund gefunden hätte, Sie zu fürchten, hätte er Sie beschuldigt, einer Partei zu dienen, und Argaven, der sich stark von Furcht leiten läßt, hätte Sie vermutlich ermorden lassen. Aus diesem Grund wollte ich, daß Sie unten, das heißt, in Sicherheit blieben, solange Tibe hoch oben und an der Macht war. Zufällig ging ich gleichzeitig mit Ihnen unter. Daß ich gestürzt wurde, war unvermeidlich, ich hätte jedoch nicht gedacht, daß es noch in derselben Nacht geschah, als wir unser Gespräch führten. Doch niemand bleibt lange Argavens Premierminister. Nachdem ich den Ausweisungsbefehl erhalten hatte, konnte ich mich nicht mit Ihnen in Verbindung setzen, ohne Sie ebenfalls in Ungnade und damit in Lebensgefahr zu bringen. Ich kam nach Orgoreyn. Ich versuchte Ihnen den Vorschlag zu machen, ebenfalls nach Orgoreyn zu kommen. Ich drängte die Männer der dreiunddreißig Commensalen, denen ich am wenigsten mißtraute, Ihnen die Einreise zu gestatten; ohne deren Grund hätten Sie die nämlich niemals bekommen. Sie sahen in Ihnen eine Möglichkeit, an die Macht zu gelangen, eine Möglichkeit, die sich verschärfende Rivalität mit Karhide aus der Welt zu schaffen und den freien Handel wieder einzuführen, vielleicht sogar die Zwangsjacke des Sarf abzustreifen. Ich bestärkte sie in dieser Ansicht, aber sie sind übervorsichtig und haben Angst, die Initiative zu ergreifen. Statt Sie der Öffentlichkeit vorzustellen, versteckten sie Sie, verloren dadurch ihre Chance und verkauften Sie an den Sarf, um ihre eigene Haut zu retten. Ich hatte mich zu sehr auf diese Männer verlassen, und darum trifft mich allein die Schuld.«
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